Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg
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Название: Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug

Автор: Gottfried Zurbrügg

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

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isbn: 9783960085577

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СКАЧАТЬ Er wollte fortlaufen, aber er kam nicht voran. Natürlich, Serotonin lähmt die Glieder, dachte er. So entstehen Albträume.

      „Das ist kein Traum“, sagte die Gestalt neben ihm. „Du fühlst meine Haut. Du fühlst meine Wärme. Es ist nicht die Wärme der jungen Frau von heute Nacht. Wir sind älter. Wir bestehen durch alle Zeiten.“

      Nur nicht fragen, wer sie ist, dachte Scherrer. Ich will es nicht wissen. Er wagte auch nicht, den Kopf zu drehen.

      „Du würdest es auch nicht verstehen, Scherrer“, sagte sie. „Du bist Wissenschaftler. Du hast deine Skulpturen gesammelt, weil es dir Freude machte, Gegenstände in der Hand zu halten, denen andere Leben eingehaucht hatten. Du hast das Leben gespürt, aber du hattest selber genug Leben, um nur die Kälte des Steins zu fühlen. Nun hast du gemerkt, dass der Stein warm ist.“

      Scherrer verspürte keine Lust, zu diskutieren, und überließ sich dem Schlaf. Die Gegenstände um ihn herum begannen zu leben. Die Katzenstatue vom Eingang seines Hauses, die Göttin Bastet, ging durch den Raum. Er sah die schlanke Figur, den angedeuteten Rock tief auf der Hüfte, aber den Kopf nur von hinten. Es kommt auf den Kopf nicht an, dachte er lächelnd im Schlaf. Es geht um den Körper, nur um den Körper. Geschmeidig schlich Bastet durch den Raum und berührte die kleine Göttin Selekit, die aus ihrem Schlaf erwachte. Ihre goldenen Flügel erhielten schwarz-weiße Federn. Die Flügel begannen zu schlagen, aber Scherrers Augen wurden abgelenkt. Die Kanopen auf dem Bücherregal erwachten. Wieder war es Bastet, die ihnen mit der Hand über den Kopf strich. So wie ich es vorhin getan habe, dachte Scherrer, als ich den Stein zum Leben erweckte. War ihm der Stein nicht warm vorgekommen?

      Zu spät! Scherrer sank tiefer in den Schlaf. Er sah noch, wie sich die Köpfe der Kanopen bewegten, und hörte, wie die Katze sagte: „Wir haben kein Recht, uns in die Welt der Menschen einzumischen. Die Götter und die Menschen leben in unterschiedlichen Zeiträumen. Wir können sie nicht verstehen, und sie verstehen uns nicht.“

      Er hätte zu gern gewusst, was die Kanopen antworteten, aber er hörte sie nicht mehr. Wohlige Dunkelheit umgab ihn.

      Er erwachte, wie es ihm schien, kurze Zeit später. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Morgen erhellte schon den Raum. Alles war an Ort und Stelle. Die kleine Selekit breitete ihre goldenen Flügel aus wie immer. Goldene Flügel, nicht die Farben der Geierflügel, die er im Traum gesehen hatte. Er streckte sich. Seine Glieder schmerzten von der ungewohnten Lage. Die Uhr schlug sechs. Die Zeit anhalten, dachte Scherrer. Mein erster und mein letzter Gedanke. Wenn man das könnte! Ich will keine Ewigkeit. Ich will kein Leben, das hin und her pendelt zwischen der Wirklichkeit und dem Traum. Ich will nicht durch eine Scheintür zwischen den Welten hin und her wandern. Sei es nun eine bemalte Scheintür in einem Grab oder der Bildschirm an meinem Computer, der schwarz wird und trotzdem etwas zeigt, was ich nicht sehen kann. Ich will die Welt der Götter nicht, aber ich will auch nicht im Tod versinken, im Nichts. Ich will nicht vergehen! Die Zeit anhalten! War da nicht Anne Neidhardt mit dem geheimnisvollen Todesgen in der Arabidopsis? Hatte sie eine innere Uhr gefunden? Eine unsterbliche Pflanze? Ob es das gab? Potentiell war das möglich, den Pflanzen möglich. Auch Tiere und Menschen hatten innere Uhren. Wie war das, wenn man die Uhr anhielt? Ob das ginge? Leben ohne Tod. „Der Tod ist das Geheimnis des Lebens, denn nur mit ihm ist so viel Leben möglich“, sagte einst Goethe, der Denker, der ungewöhnliche Naturwissenschaftler, der Mann, der andere Wege ging. Ob ich auch andere Wege gehen werde?

      Der unerbittliche Husten stellte sich wieder ein. „Das ist das Leben“, sagte Scherrer, „ein ständiger Kampf gegen den Tod, den wir nur verlieren können.“ Er sagte es wie eine Frage, aber die Bücher und Statuen gaben keine Antwort, die er nicht schon Hunderte Male gelesen hatte. Er kannte das ägyptische Totenbuch. Die Reise durch die Zwischenwelt, vorbei an den Gottheiten, die das Herz wogen. „Was habe ich in die Waagschale zu legen?“ Diese Frage stand plötzlich im Raum. Habe ich stets nur genommen? Habe ich immer nur genossen oder auch gegeben? „Ich habe gesucht“, sagte Scherrer, „und ich suche noch immer nach einer Antwort.“ Ob das zählen würde? Er wusste es nicht.

      Zaghaft klopfte es an der Tür. „Herein“, rief Scherrer. Das musste das Hausmädchen sein. Dagmar würde nicht anklopfen. Es war das Mädchen. „Möchte der Herr frühstücken?“, fragte Irmgard.

      Er wollte fragen, woher sie wusste, wo er zu finden war. Aber das Hauspersonal hatte auch so seine Geheimnisse. „Ist meine Frau schon auf?“, fragte er und wusste gleichzeitig, dass er sie nicht sehen wollte.

      „Die gnädige Frau erwartet Sie um 8.00 Uhr im Esszimmer. Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte sie.

      „Ja, gerne“, antwortete Scherrer, „ein Kaffee wäre schön. Bitte stellen Sie ihn hier ins Arbeitszimmer. Ich habe noch zu tun und möchte mich eben frisch machen.“

      Mit keiner Miene zeigte das Hausmädchen, dass sie sich wunderte. Gutes Personal ist viel wert, dachte Scherrer unwillkürlich und ging aus dem Raum, um sich im Bad fertig zu machen.

      Im Bad lagen saubere Wäsche zum Wechseln, ein frisches Hemd und auf dem Bügel hinter der Tür hing ein anderer Anzug. Ein Gruß von Dagmar, meiner Frau, dachte Scherrer in einem Anflug von Zärtlichkeit. Sie kennt mich seit vielen Jahren. Einen Augenblick überkam ihn ein melancholisches Gefühl von Einsamkeit. Wir haben uns verloren. Vielleicht schon vor langer Zeit.

      Er schaute in den Spiegel und erschrak vor seinem eigenen Spiegelbild. Die sonst so gepflegten Locken hingen wirr in seine Stirn. Er hatte es gar nicht bemerkt. Die Augen waren ein bisschen blutunterlaufen. Die Lider hingen schlaff herunter. Der Mund war schmal und zusammengekniffen. Ein Gesicht nach einer Nacht voller Unruhe und wenig Schlaf.

      Scherrer zog sich langsam aus und duschte ausgiebig. Dann rasierte er sich sorgfältig. Ganz in Gedanken griff er zu dem Schalter unter dem Waschbecken und drückte ihn. „Morgendlicher Befund“, sagte seine Stimme vom Tonband. „Augen klar, Zahnfleisch gut durchblutet, Zunge ohne Belag.“ Lächelnd sah er sich an, griff erneut nach dem Schalter und stellte das Tonband ab. Eine endlose Reihe von Tagen, an denen alles immer gleich war.

      „Gesund und ohne Befund“, sagte er. „Ich habe geglaubt, es müsse immer so sein.“

      Langsam kleidete er sich an. Ein Kratzen im Hals mahnte ihn erneut an den längst fälligen Arztbesuch. Scherrer nahm ein Papiertuch aus dem Spender und hielt es vor den Mund Ein neuer Husten schüttelte ihn. Als der Anfall endlich vorbei war, war das Taschentuch leicht gerötet. Scherrer sah die Blutspuren betroffen an und warf das Tuch in den Mülleimer. Er kämmte seine grauen Haare, kniff den Sitz der Locken mit zwei Fingern nach und zog sich sorgfältig an. Bevor er hinunterging, kontrollierte er den Sitz der Krawatte und des Anzugs. Er war zufrieden. Die heiße Dusche hatte die Spuren der Nacht beseitigt. Scherrer griff nach einem Becher, ließ Wasser einlaufen, gab einige Tropfen Mundwasser hinzu und gurgelte mit dem Wasser, um den Blutgeschmack im Munde zu beseitigen. Vorsichtig spuckte er aus, um seinen Anzug auf keinen Fall zu beschmutzen. Dann warf er sich einen letzten Blick zu, freute sich daran, dass sein Mund wieder überlegen lächelte, und begab sich zurück in seinen Arbeitsraum.

      Der Kaffee stand bereit. Scherrer trank einen Schluck und spürte, wie das heiße Getränk in den Magen rann, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitete. Dann ging er an seinen Schreibtisch, stellte den Computer an und wartete geduldig, bis das Programm hochgefahren war. Flink eilten seine Finger über die Tasten und schienen sie kaum zu berühren.

      „Interview mit Professor Scherrer“, schrieb er und stellte die wichtigsten Gedanken des Gesprächs mit Sybille zusammen.

      Dann nahm er das Telefon, wählte die Nummer seines Büros und bat seine Sekretärin um einen Gefallen. „Ich überspiele Ihnen einen Text über das Internet“, erklärte er, „bitte drucken Sie ihn aus und schicken ihn per Boten in die Redaktion СКАЧАТЬ