Neues vom Tatort Tegel. Ingrid Noll
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Название: Neues vom Tatort Tegel

Автор: Ingrid Noll

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежные детективы

Серия:

isbn: 9783955522421

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СКАЧАТЬ so arbeitete Kardigglding ruhig und zügig die Liste seiner Hauptverdächtigen ab. Da die Toten ohne Ausnahme Angestellte beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen waren, fand der Kommissar rasch eine Spur zu mehreren Drehbuchautoren, die nachweislich von den Redakteuren geknechtet, missachtet, schlecht bezahlt oder übersehen worden waren. Die Vernehmungen gestalteten sich ungewöhnlich einfach. Die Schreiberlinge, wie Kardigglding die Verdächtigen nannte, steigerten sich in derart atemberaubende Widersprüche hinein, dass der Kommissar allein drei von ihnen locker für fünf noch unaufgeklärte Morde im österreichischen Waldviertel hätte verantwortlich machen können. Sie waren kurz davor, alles zu gestehen. Aber es ging um die kopflosen Redakteure, und nachdem sein letzter Hauptverdächtiger, ein Autor, der sich von seinen Honoraren für unzählige Folgen der Reihen »Soko 5113« und »Die Rosenheimcops« eine Finca auf Mallorca, ein Apartment in Berlin und eine Achtzimmerwohnung in Quedlinburg gekauft hatte, aus dem Fenster gesprungen war, musste Kardigglding handeln. Die Presse saß ihm im Nacken, der Innenminister, die Intendanten von ARD und ZDF. Und der Bayerische Rundfunk ließ durchblicken, dass der Sender sein Beraterhonorar für die Serie »Unter unserem Himmel« streichen würde, falls der Kommissar nicht bald einen Täter präsentiere.

      Da der theatralische Drehbuchautor aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen war und dabei lediglich seine Kontaktlinsen verloren hatte, brauchte sich Kardigglding nicht weiter um ihn zu kümmern. Stattdessen ließ er einen Zeugen in sein Büro bringen, den er schon länger im Visier hatte. Der Mann war immer wieder in einem Pulk von Schaulustigen aufgefallen, und als er jetzt vor ihm saß, wusste Kardigglding, dass er wieder einmal den richtigen Riecher gehabt hatte. Der Mann war ein verhinderter Schriftsteller, er hatte sich unzählige Male mit halbgaren Drehbüchern bei Produktionsfirmen und Redaktionen beworben, er schrieb Hassbriefe an sämtliche Sender, und er war schon einmal in Urlaub in Südamerika gewesen.

      Am nächsten Morgen hatte Kardigglding sein Geständnis. Der Täter – er hieß Max Geier, war 56 Jahre alt und arbeitslos – hatte zugegeben, mit einer zwei Kilo schweren und einen Meter langen Machete die acht Männer aus Wut und Verzweiflung enthauptet zu haben. Jedem von ihnen habe er aufgelauert und die Tat minutiös vorbereitet. Er bereue nichts.

      Ein Jahr später sprach das Landgericht München 1 das Urteil: lebenslänglich für Max Geier. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung widmete Hauptkommissar Neidhard Kardigglding ein ganzes Heft, und der Bayerische Rundfunk richtete dem verdienstvollen Staatsbeamten eine eigene Talkshow anstelle der »Münchner Runde« ein. Die Tatsache, dass es sich bei dem Verurteilten um einen blinden, contergangeschädigten, nur sechzig Kilogramm wiegenden Mann handelte, spielte sowohl bei der Urteilsfindung als auch im Verlauf der Berichterstattung eine eher untergeordnete Rolle.

      TILO BALLIEN

      Bei ihr ist noch Licht

      Gerade ist sie wieder rein. Jetzt kann ich rauchen. Ich will noch etwas warten.

      Ich habe viel Zeit. Meine Arbeitslosigkeit stört mich nicht, was diesen Aspekt betrifft. Ich habe gern viel Zeit. Zum Nachdenken. Ich denke viel nach, sehr viel. Ich kann stundenlang über irgendwas grübeln. Manchmal schreibe ich auf, was ich wichtig finde. Das vernichte ich meistens, wenn ich es später wieder lese. Aber ich vergesse nie, was ich einmal gedacht und aufgeschrieben habe. Deshalb kann ich es ruhig zerreißen, weil ich es im Kopf habe. Aber das muss niemand anders lesen. Erst recht das Tagebuch nicht.

      Viel Zeit zu haben kann teuer sein. Ich komme hin mit meinem Geld. Ich gehe nicht in Cafés oder in Kneipen oder ins Kino. Bier zu Hause ist billiger. Und mehr Kino als die Glotze bieten die Filmpaläste auch nicht. Und die Videotheken sind doch echt billig. Ich weiß gar nicht, wie die überleben. Zu Hause habe ich jedenfalls keinen Popcorngestank in der Nase wie im Kino und muss nicht zusehen, wie Pärchen miteinander knutschen. Die kriegen vom Film oft gar nichts mit. Ich bin allein. Eigentlich immer. Beim Videogucken kann ich machen, was ich will. Ich ziehe die Vorhänge zu und bin ganz für mich.

      Was ich sagen will: Ich hätte an diesem bestimmten Tag nie und nimmer überlegt, ob ich nicht trotz der damit verbundenen Kosten reingehen soll, wenn es plötzlich nicht wie verrückt angefangen hätte zu regnen. Der Himmel war aschgrau und die Atmosphäre schwer. Man fühlte sich wie unter einer umgedrehten alten Zinkbadewanne. Im Radio hatten sie zwar gesagt, die Sonne würde den ganzen Tag nicht scheinen, aber von Regen war keine Rede gewesen. Deshalb hatte ich den Schirm zu Hause gelassen. Pech. Oder auch nicht. Denn hätte ich einen Schirm gehabt, wäre ich ihr vermutlich nie begegnet. Das war also geradezu schicksalhaft. Irgendwie.

      Natürlich hätte es auch jemand völlig anderes sein können als gerade sie. Daran habe ich schon manchmal gedacht. Sie verließ das Café, als ich mich unter dem Vordach unterstellen wollte, um mich vor dem Regen zu schützen oder, wie gesagt, vielleicht sogar reinzugehen. Sie warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel. Ihre Augen waren groß und dunkel. Ich bin ihr nachgegangen, ganz spontan. Ich bin schon manchmal Leuten nachgegangen, einfach so. Mal gucken, was sie so machen. Aber die meisten machen nichts. Ich meine, nichts Besonderes oder Aufregendes. Die meisten gehen nach Hause oder verschwinden jedenfalls in irgendwelchen Häusern, und ab diesem Zeitpunkt sind sie einfach weg. Da kann man ewig warten. Sie bleiben, wo sie sind. Stinklangweilig. In die meisten Häuser kann man ja nicht reinsehen, wenigstens nicht in die oberen Stockwerke.

      Sie rannte unter dem Regen hindurch in das Kaufhaus zwei Häuser weiter. Dort ist sie dann nur herumgeschlendert und hat sich Sachen angesehen. In der Abteilung für Damenwäsche ist sie lange geblieben. Da konnte ich sie nur aus sicherer Entfernung beobachten, damit keiner denkt: Was macht der Kerl da in der Dessous-Abteilung? Würde ja niemand glauben, wenn ich sagte: Ich guck mir was für meine Alte an. Ich fragte mich, ob sie solche Sachen trägt wie die, die sie sich anschaut, so ganz zarte Teile. Sie hat aber nichts gekauft. Ich dachte, wahrscheinlich hatte sie auch einfach keinen Schirm dabei und wollte nur den Regenguss abwarten.

      Als der Regen vorüber war, ist sie vom Kaufhaus zur Bushaltestelle gegangen. Ich habe die Monatskarte vom Sozialamt, also bin ich mit in den Bus. Sie hat bezahlt, also fährt sie nicht regelmäßig, schloss ich daraus. Ich bin, glaube ich, ein ganz guter Beobachter. Ich habe mich ganz hinten in die letzte Bank gesetzt, damit ich sie immer im Blick hatte. Sie wirkte müde. Einmal hat ihr Handy geklingelt, nix Ausgefallenes wie melodisches Furzen oder irgendein Popsong, wie das jetzt viele lustig finden, einfach nur Klingeling. Sie hat nur ein wenig mürrisch aufs Display geschaut und ist nicht rangegangen. Das hat mich gefreut.

      Ich schätze, dass sie so neunzehn, vielleicht zwanzig ist. Genau weiß ich das nicht, müsste aber hinkommen. Während der Fahrt hat sie aus dem Fenster oder vor sich hin geschaut und manchmal mit der Hand ihr Haar geprüft. Ob es schon trocken ist. Sie ist brünett. Brünett gefällt mir am besten. Vielleicht ist deshalb alles so gekommen, wie es jetzt ist. Ich dachte, ich setze mich direkt hinter sie. Bestimmt duftet ihr Haar gut, oder vielleicht berührt mich eine Strähne, wenn ich eine Hand wie zufällig und ein bisschen lässig auf die Vorderlehne lege. Aber das habe ich dann natürlich nicht gewagt. Ich bin nicht so einer.

      Die Fahrt war lang. Sie stieg erst an der Endhaltestelle aus, draußen in der Waldheimsiedlung, wo die flachen Neubauten und viele Einfamilienhäuser stehen. Ich sah ihr unauffällig nach. Es war schon dämmerig. Der Regen hatte nachgelassen, es tröpfelte nur noch ein kleines bisschen, unentschlossen und lustlos. Ich drehte mir eine Zigarette, während sich die Leute entfernten. Als sie so fünfzig Meter weit gegangen war, folgte ich ihr.

      Sie ging gut zweihundert Meter in die Siedlung hinein, bis zu den Häusern, die ganz am Rand des Wäldchens stehen, hinter dem der See beginnt. Sie betrat das Haus Krähenwinkel 32, eines dieser flachen Mietshäuser für vier Parteien, die nach hinten raus unten große Terrassen und oben Balkons über die ganze Hausfront haben. Kurz danach ging ein Licht im ersten Stock an. Wahrscheinlich die Küche. Alles andere blieb dunkel.

      Ich ging auf die andere Straßenseite und zündete mir СКАЧАТЬ