Название: Cantata Bolivia
Автор: Manfred Eisner
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783957446794
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Dann ist da das Ehepaar Sturm aus Nürnberg. Max ist Jude, seine Ehefrau Elfriede katholisch. Sie folgte ihm freiwillig ins Exil, als man von ihr verlangte, sie solle sich doch „von dem Juden scheiden lassen“. Man merkt ihr aber an, dass sie unter den jetzigen Umständen seelisch leidet. Bis wir hier eintrafen, hat sie in der Küche gewirkt, angeblich war man aber mit den von ihr zubereiteten Speisen nicht sehr zufrieden. Obwohl ein wenig polterig, ist der ziemlich korpulente Max doch eigentlich sympathisch, wären da nicht die übel riechenden Zigarrenstumpen, die er gelegentlich raucht. Wir mussten ihn deshalb bitten, dies entweder auf dem Hof oder auf der Straße vor dem Hause zu tun.
Ehepaar Jakob und Sara Kahn mit den beiden Kindern Thea (13) und Alfred (ebenso alt wie Oliver) sind aus Gera in Thüringen geflüchtet und bewohnen zwei Zimmer. Beide Kinder besuchen die hiesige jüdische Schule. Herr Kahn ist für Josef als fleißiger Vertreter tätig und verkauft in der Stadt die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Hacienda, denn gut sortierte Lebensmittelläden wie bei uns in Deutschland gibt es hier nicht. Die benötigten Esswaren kauft man hier entweder auf dem Mercado – Markt – oder in kleinsten, dunklen Tiendas, das sind Gewölbe, in denen Indiofrauen nebst einigen wenigen Konservenbüchsen nur die hier üblicherweise vorhandenen Erzeugnisse feilhalten. Die Immigranten sind froh, wenigstens ab und zu ihnen von zu Hause bekannte Gemüsearten wie Rot- und Weißkohl, grünen Salat, Gurken, Radieschen, Schnittlauch und Rote Beete, aber auch frische Butter und Eier sowie Weißkäse, Quark und Buttermilch angeboten zu bekommen. Gelegentlich gibt es bei Herrn Kahn sogar frisch geschlachtetes Kaninchen- oder Kalbfleisch zu kaufen.
Ein kleineres Einzelzimmer wird von dem pausenlos Zigaretten rauchenden Herrn Ullmann bewohnt, ein kauziger Mathematiker aus Marburg, der felsenfest davon überzeugt ist, das Rätsel der Quadratur des Zirkels lösen zu können. Heiko sagt, es könne sich nur um einen großen, netten Fantasten handeln, denn es sei allseits bekannt, dass es für diese Scheinaufgabe keine Lösung gäbe. Irgendwie erinnert mich dieser nett daherschauende alte Mann an unseren lieben Onkel Suhl.
Ungefähr einen Monat vor meiner Ankunft mit den Kindern belegten Fritz und Fritzie Grünbach, ein jüdisches Wiener Paar, das einzige bis dahin noch freie Zimmer. Sie wohnten zunächst in Boliviens Hauptstadt, Sucre, zogen aber gern her, nachdem man Frau Fritzie eine Stellung als Biologie-Laborantin beim hiesigen Servicio de Sanidad, dem staatlichen Gesundheitsdienst, angetragen hatte. Sie nahmen dankend an, denn bisher konnten weder Fritz als Architekt noch sie in Sucre entsprechende Arbeit finden. Beide sind sehr lustige Leute, Fritz erzählt immerzu Witze. Es ist gut, dass sie im Hause sind, denn die meisten von uns müssen das herzhafte Lachen erst wieder lernen.
Und schließlich bewohnen wir, die vier Kellers, gemeinsam das verbliebene der acht Zimmer. Hier haben wir den besonderen Luxus, über ein eigenes Waschbecken zu verfügen, müssen uns also nicht alltäglich mit den anderen vor der Tür zum Badezimmer anstellen. Allerdings verfügen wir alle zusammen nur über ein einziges Spülklosett, das erfahrungsgemäß immer dann gerade besetzt ist, wenn man besonders dringend muss. Wir schlafen auf vier einfachen Eisenbetten, haben dazu noch zwei Nachtkästchen und einen mittelgroßen Schrank, in dem naturgemäß nur sehr wenig Raum für die von vier Personen benötigte Kleidung ist. Deswegen haben wir unsere gesamte Habe aus den zwölf Schiffskoffern derart umgepackt, dass sich das alltäglich Nötige in zwei dieser Koffer befindet, die aufeinandergestapelt in einer Zimmerecke stehen. Unser erstes apartes „Möbelstück“ habe ich mit einem bunt gewebten, großen Indioteppich drapiert, den ich auf dem Markt erstanden habe. Die restlichen zehn Koffer lagern zusammen mit dem vielen Gepäck unserer Mitbewohner in einem Schuppen hinter Josefs Villa. Im Haus ist dafür einfach kein Platz.
Es gibt einen Wochenplan, nach dem die Nutzung der Wanne im Badezimmer für jede Partie genau eingeteilt ist. Hierfür wird ein gefährliches Ungetüm, genannt „Calefón“, in die bereits mit Wasser gefüllte Wanne gestellt. Dieser Tauchsieder ist ein Holzgestell, das mit einer mit mehreren Löchern versehenen Linoleumhülle bespannt ist. In dem Gestell glühen fünf Elektro-Heizspiralen, sobald man den ungeschützten, zweipoligen Steckschalter an der Wand betätigt, der mittels eines Verbindungskabels mit dem Gerät verbunden ist. Nur darf man dann nicht ins Wasser greifen, denn das gibt einen augenblicklichen, den Tod bringenden Stromschlag! Mir ist jedes Mal unheimlich, wenn ich in die Wanne steige, und das, obwohl dieses Monstrum bereits abgeschaltet und aus dem Wasser entfernt worden ist. Übrigens müssen, damit das Gerät auch die volle Leistung bringen kann, gleichzeitig sämtliche Lampen im Hause ausgeschaltet sein, sonst brennt beim Einschalten des Calefóns auf der Stelle eine Hauptsicherung durch!
Wie schon angedeutet, hat mir bald nach der Ankunft Josef hier die Regie in der Küche übertragen, denn das, was die einfältige Elfriede Sturm den Bewohnern vorgesetzt hat, war in der Tat nicht immer genießbar. So gab es hier für mich zunächst wirklich viel Neues zu lernen!
Erst einmal Grundsätzliches: Hier, auf einer Höhe von 3.800 Metern, kocht Wasser nicht erst bei 100 °C wie auf Meereshöhe, sondern bereits bei 84 °C! Dies ist bedingt durch den verminderten atmosphärischen Druck in dieser Höhe. Das hatte ich ja auch irgendwann im Flensburger Lehrerseminar gelernt, aber natürlich längst wieder vergessen! Das bedeutet, dass man viel mehr Zeit als bei uns zu Hause braucht, um Speisen zu garen. Besonders schwierig ist es beim Fleisch – dies muss endlos lange kochen und ist dann meistens total ausgelaugt und faserig. Zudem sind alle Speisen, wenn sie auf den Tisch kommen, höchstens noch lauwarm, aber daran kann man sich schnell gewöhnen. Es soll ja auch nicht so gesund sein, immer so heiß zu essen, hat Fritzie Grünbach uns kürzlich verkündet. Sie muss es ja wissen, als Biologin.
Da ich soeben das Thema „Wasser“ erwähnte: Leitungswasser aus dem Hahn ist hier keineswegs gleichzusetzen mit gesundem Trinkwasser. Das ursprünglich reine Wasser stammt aus der Schneeschmelze in den hohen Bergen, fließt aber zunächst über offene Kanäle und Rohrleitungen in die Stadt und wird auf diesem Wege durch Tier und Mensch verunreinigt. Wir dürfen deshalb niemals ungekochtes und ungefiltertes Wasser trinken oder zum Waschen von roh essbaren Lebensmitteln verwenden. Auf dem Innenhof wurden zwei große Berkefield-Filter aufgestellt, die mit dem vorab mindestens zehn Minuten lang abgekochten Wasser nach dem Abkühlen befüllt werden. Das Wasser dringt durch die Keramikpatronen und wird dabei von Schwebestoffen befreit und gereinigt.
Viele Immigranten waren bereits von den im Leitungswasser mitgeführten Krankheitserregern, vor allem Typhusbakterien, befallen und erkrankten schwer. Etliche von ihnen sind sogar daran gestorben. Josef hat uns deshalb, wie auch alle anderen Hausbewohner, zur Typhusimpfung zum Amerikanischen Gesundheitsdienst gebracht, wo wir eine sehr schmerhafte Spritze erhielten. Fast alle hatten an den nachfolgenden zwei bis drei Tagen erhöhte Temperatur und der Oberarm war um die Einstichstelle herum stark gerötet und tat recht stark weh. Einige Wochen danach mussten wir noch einmal dorthin und wir wurden gegen Viruela, die schwarzen Pocken, geimpft, die hier ebenfalls überall grassieren. Beide Impfungen müssen alljährlich wiederholt werden.
Ebenso bedeutend: In dieser Höhe hat die Luft beachtlich weniger Sauerstoff, deshalb geht einem beim schnelleren Gehen oder gar bei einer der vielen steil ansteigenden Straßen in dieser Stadt rasch die Puste aus. Aus gleichem Grunde ist das Anzünden der primitiven, einflammigen „Primus“-Petroleumkocher, auf denen wir die Mahlzeiten zubereiten, schwierig und etwas langwierig: Zunächst wird ein Stück zusammengedrehtes Zeitungspapier mit einem Streichholz angezündet und in die Düsenwanne des Primus hineingesteckt, damit sich diese Stelle erwärmt. Man könnte das auch mit leichter entzündlichem Brennspiritus tun, denn dafür ist СКАЧАТЬ