Название: Blind am Rande des Abgrundes
Автор: Fritz Krebs
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783957444844
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War erst einmal der erste Schnee gefallen, dann dauerte es gewöhnlich nicht lange bis zum Weihnachtsfest. Die Schule bereitete uns auf ihre Weise darauf vor, indem sie im nahen Gasthof Rasephas regelmäßig eine Weihnachtsfeier ausgestaltete. Alle Klassen beteiligten sich entsprechend ihrer Kenntnisse und Befähigung daran, indem sie kleine Theaterstücke einübten. Die entsprechenden Vorbereitungen liefen über viele Wochen hinweg und wurden teilweise mit dem Unterricht verbunden. In der zweiten Klasse übten wir das Lesestück „Abenteuer im Walde“ als Bühnenstück ein, wobei alle Schüler mitwirkten. Unser Klassenlehrer hatte entsprechende Dialoge verfasst. Im Werkunterricht bastelten wir die Kulissen. Sie bestanden aus Pappbäumen, von denen jeder einen Holzstiel bekam, damit man den Baum anfassen und festhalten konnte. Ich gehörte zu den Statisten, die den wackelnden Wald auf der Bühne vorzustellen hatten und für die unwissenden Zuschauer im Chor erklären mussten: „Wir sind die Bäume“. Ich war zufrieden, keine Hauptrolle übernehmen zu müssen, wie etwa der Darsteller eines wichtigtuerischen Hirschhornkäfers oder die einiger anderer Waldbewohner, die unter einem großen Fliegenpilz in Regenschirmformat ihre Dialoge zu sprechen hatten. Die Elternschaft applaudierte am Schluss voller Rührung und ich hastete von der Bühne, die mir damals nicht die Welt bedeutete. So traten nach und nach alle Klassen mit irgendwelchen Darbietungen vor der zahlreich versammelten Elternschaft auf. Ich war jedenfalls froh, dass ich wieder unter den Zuschauern Platz nehmen durfte. Wenngleich mir selbst der öffentliche Auftritt als Schauspieler nicht lag, so war ich doch von den Vorführungen der älteren Schüler so sehr beeindruckt, dass ich noch auf dem Heimweg wie aufgezogen herumzappelte. Dabei ging ein Erinnerungsstück an meinen Auerbacher Großvater zu Bruch, das meine Eltern als Requisite für den Auftritt des Hirschhornkäfers zur Verfügung gestellt hatten. Es war eine sehr schöne Tabakspfeife mit einem buntbemalten Porzellankopf.
4. Dienst
Das Jahr 1933 sollte in unserem Land alles anders werden lassen als es bislang gewesen war. Erwachsene mochten das vorausahnen oder auch nicht. Für Kinder, deren Welt sich ununterbrochen erweitert und damit auch immer neu und anders wird, war das damalige politische Geschehen jedenfalls nicht durchschaubar. Es scheint mir deshalb angebracht, von hier ab meinen Bericht gelegentlich durch Informationen zu ergänzen, wie sie die damals Erwachsenen der „Altenburger Landeszeitung“ oder einem anderen regionalen Tageblatt entnehmen konnten. Wie alle Kinder meines Alters, fand ich noch keinen Gefallen am Zeitunglesen. Das bedeutete jedoch nicht, dass wir die Ereignisse auf der großen Weltbühne nicht wahrnahmen und auf unsere Weise reflektierten. Wir waren alsbald sogar zu Mitwirkenden gemacht, ehe wir überhaupt verstanden hatten welche Tragödie in den nächsten Jahren aufgeführt werden sollte. Für mich begann das an einem sehr warmen Frühlingstag, als ich aus Neugier einen folgenreichen Entschluss fasste. An diesem Tage hatte ich mit einigen Spielgefährten lustlos an einer Stelle des Bahndammes herumgesessen, die uns zu bestimmten Zeiten als Palaverplatz diente. An diesem Stück Damm waren alte Holzschwellen senkrecht in den Boden gerammt, um ein Abrutschen des Hanges zu verhindern. Wenn wir darauf hockten und die Beine baumeln ließen, dann kamen wir manchmal auf die seltsamsten Einfälle. An diesem Tage hatten wir wohl schon eine geraume Zeit so herumgehangen, als sich uns eine Gruppe von Jungen näherte, unter denen auch einer aus unserer Straße war. Werner Quilitzsch löste sich aus dem Trupp. Er wohnte unweit von unserem Palaverplatz und kam nun zu uns heran, um uns ins Staunen zu versetzen. Das gelang ihm allein schon durch sein Äußeres. Er trug, wie auch die anderen uns aber nicht bekannten Jungen, ein weißes Hemd. Seine kurze schwarze Hose war mit einem Sportgürtel zusammengeschnürt, dessen Schnalle eine Fahne mit dem Hakenkreuz vorstellte. Solcherart Gebrauchsgegenstände wurden einige Zeit später in Deutschland verpönt und als „nationaler Kitsch“ bezeichnet. In dieser Phase des politischen Wandels war aber noch mancherlei erlaubt und möglich. Wortlos und ein wenig herausfordernd postierte sich Werner vor uns auf den Gehweg. In seiner zusammengezurrten Hose sah der ohnehin schon schlanke Kerl noch erheblich dünner aus als gewöhnlich. Natürlich konnten wir uns nicht verkneifen zu fragen, woher er denn käme. Was wir erfuhren, machte neugierig. Quilitzsch war in das Deutsche Jungvolk eingetreten und hatte gerade an einer sogenannten „Fahrt“ teilgenommen. Was es damit auf sich hatte, erklärte er uns nun, nach Jungenart froh darüber, sich mit seinen Neuigkeiten interessant machen zu können. Dabei verwendete er Begriffe, die uns nicht geläufig waren, wie zum Beispiel: Lagerfeuer, Geländespiel, Heimabend usw. Der nächste von diesen Heimabenden fände am kommenden Mittwoch statt, sagte er. Es würden dort spannende Geschichten vorgelesen und auch Lieder gesungen. Die Sache mit den Liedern hätte er sich von mir aus sparen können. Da reichte mir schon der Musikunterricht in der Schule. Die Aussicht auf eine Abenteuergeschichte war aber verlockend genug, um bei mir den Wunsch nach einem Probebesuch eines dieser Heimabende zu wecken. Ein anderer Junge, Heinz Geißler, zeigte ebenfalls Interesse. Werner Quilitzsch erbot sich, uns am kommenden Mittwoch abzuholen. Eine solche Absprache hatte für mich damals natürlich noch so lange keine Wirksamkeit, bis nicht die Erlaubnis meines Vaters dazu eingeholt war. Wie sich herausstellen sollte, war sie aber leichter zu erhalten als ich es erfahrungsgemäß hätte erwarten müssen. Ich kann heute nur Vermutungen darüber anstellen, was meinen Vater dazu bewogen haben mag, mir seine Einwilligung zu diesem Vorhaben zu geben. Vielleicht wollte er mich nur von der Straße weghaben, auf der ich oft genug herumlungerte. Möglicherweise gehörte er damals zu den Leuten, die meinten, Hitler werde im Lande nun doch vielleicht besser als seine Vorgänger die Arbeitslosigkeit bekämpfen und für mehr Sicherheit im Alltag der Menschen sorgen. Unbestritten ist jedenfalls, dass ich selbst einen der schwerwiegendsten Entschlüsse in meinem Leben an diesem schönen Frühlingstage des Jahres 1933 gefasst habe. Das geschah im Alter von acht und ein halb Jahren.
Während der ersten Monate nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland berichtete die „Altenburger Landeszeitung“ unter anderem folgendes über die damalige politische Situation im Lande und in unserer Stadt:
Mittwoch, 1. Februar 1933
Gewaltige Kundgebung in Altenburg für die neue Regierung. Fackelzug von Stahlhelm und SA.
Dienstag, 28. Februar 1933
Das Reichstagsgebäude von Kommunisten in Brand gesteckt.
Mittwoch, 1. März 1933
Hilfspolizei aus SS und Stahlhelm in Altenburg. Das Ernestinum als Kaserne.
Dienstag, 7. März 1933
Die nationalen Fahnen auf dem Rathaus. Gestern Nachmittag wehte auf dem Rathause sowie auf dem Turm des Schlosses die Hakenkreuzfahne.
Sonnabend, 25. März 1933
Konzentrationslager für politische Gefangene in Dachau.
Freitag, 7. April 1933
Führertreffen des Jungvolks auf der Leuchtenburg … für die Führer der im Jungvolk organisierten 150 000 Mitglieder.
Sonnabend, 8. April 1933