Niemand von ihnen wusste, wie es Linda Mörike gelungen war, ohne berufliche Erfahrung und direkt nach dem Studium einen Posten in der Mordkommission zu erhalten. Fragen beantwortete sie lapidar mit dem Hinweis »Glück gehabt!«. Dass dieses Glück dem männlichen Bedürfnis des amtierenden Polizeipräsidenten zu verdanken war, den sie bei der Verbesserung seiner Lebensqualität mit der Pressesprecherin des LKA erwischt hatte, behielt sie für sich. Auch über den wahren Grund, warum sie unbedingt in der Abteilung Mord arbeiten wollte, schwieg sie. Einer ihrer Kollegen war jener Mann, der sie mit Gewalt gezeugt hatte. Sie hatte sich geschworen, ihn zu finden.
Als Linda am Nachmittag Morgensterns Büro betrat, um ihm die Tatortfotos vom Märkischen Ufer zu bringen, stellte sie ihm eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch, nahm seine Aktentasche vom einzigen Stuhl und setzte sich. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie dies zu tun pflegte, hatte Morgenstern anfänglich irritiert. Dennoch sah er keinen Anlass, die Vertrautheit zu unterbinden. Das heiße Gebräu kam stets zum richtigen Zeitpunkt, und sein Duft ließ ihn schwach werden. Menschen mit dem Hang zum Genießen besaßen keinen Standesdünkel. Die anfänglichen Differenzen zwischen dem Hauptkommissar und der Kommissarin hatten sich verflüchtigt. Linda gehörte zu Morgensterns Team, und er war froh darüber.
Anna hatte ihn als bestechlich verurteilt, als er von Lindas Kaffeekünsten und der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn regelmäßig überfiel, berichtet hatte. Ihre Begründung: Es bedurfte lediglich eines meisterhaft zubereiteten Genussmittels, um ihn all seine hehren Grundsätze vergessen zu lassen.
Neugierig schaute Morgenstern die Tatortfotos durch. Sie waren tadellos, auf das Wesentliche fokussiert, sie bewahrten Distanz. Zwar zeigten sie das Schreckliche in allen Facetten, aber Hannes Gärtner schien über einen emotionalen Filter zu verfügen, der eine Tragödie in etwas Sachliches verwandelte. Ihm gelang es, einen verwesten Körper wie ein Biotop erscheinen zu lassen. Ein zerschmettertes Gesicht sah auf seinen Bildern wie das Ergebnis einer Laborprobe aus, an der die mechanische Einwirkung eines schweren Gegenstands überprüft worden war. Schusswunden wirkten wie die Krater ferner Gestirne, die eine hochgerüstete Sonde detailliert aufgenommen hatte. Niemand beherrschte das Spiel mit Licht und Fokus so perfekt wie Gärtner. Es gab Kollegen, die derartige Abzüge als kalt bezeichneten. Linda war spontan der Begriff »entmenschlicht« eingefallen. »Den Aufnahmen fehlt jegliche Nähe«, hatte sie noch hinzugefügt.
Morgenstern verspürte Dankbarkeit dafür, dass ihn Gärtners Fotos nicht in seinen Träumen verfolgten.
Eines der Bilder, die nun auf seinem Tisch lagen, zeigte eine Tätowierung. Sie befand sich unterhalb der rechten Schulter der Toten. Gärtner hatte sie mit einem Textmarker eingekreist. Eine Vergrößerung des Ausschnitts zeigte ein stilisiertes Chamäleon.
»Hatte das Opfer noch andere Tätowierungen?«
»Nein, es ist die einzige. Ein eher selten gewähltes Motiv«, antwortete Linda und nippte an ihrem Kaffee. Dann ergänzte sie: »Erfahrungsgemäß wird ein Tattoo bewusst ausgewählt, und meist symbolisiert es eine Überzeugung. Das Chamäleon steht womöglich für Wandelbarkeit.«
»Möglicherweise hat Sina ja nur eine Wette verloren. Oder sie mag diese Viecher.«
»Glaube ich nicht. Vielleicht, wenn es ein Häschen wäre. Von mir aus auch ein Schmetterling. Aber ein Chamäleon? Zu speziell!«
Nachdenklich betrachtete Morgenstern die Vergrößerung. »Was meinst du mit Wandelbarkeit?«, erkundigte er sich und sinnierte gleichzeitig darüber, welche Gründe es geben mochte, dass Menschen sich Endgültiges in die Haut tätowieren ließen.
»Die Wissenschaft bezeichnet das Verhalten dieser Tiere als Mimese, gemeint ist die Fähigkeit, sich der Umgebung in Gestalt, Farbe und Haltung anzupassen. Eine Variante ist die Thanatose, die sogenannte Schreckstarre, eine Strategie, die vor einer potenziellen Bedrohung schützen soll.«
Morgenstern betrachtete das Tattoo erneut. Es war meisterhaft gestochen. Es musste von jemandem gesetzt worden sein, der sein Handwerk verstand. »Wäre interessant herauszufinden, warum sich Sina ausgerechnet für dieses Motiv entschieden hat. Vielleicht kannst du das Studio ausfindig machen. Thana … Wie hieß das doch gleich?«
»Thanatose. Benannt nach Thanatos, einem griechischen Totengott. Glaubt man den Überlieferungen, lebt der an einem Ort, wo Nacht und Tag einander begegnen. Angeblich wohnt dort auch der Schlaf.«
Morgenstern ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Lindas Überlegungen waren interessant. Er würde dem nachgehen, wie jedem Anhaltspunkt, der zur Klärung des Falls verhalf. Besser gesagt, sie würde dem nachgehen.
Bevor Linda das Büro verließ, betrachtete sie Morgenstern zum wiederholten Male eingehend. Sie scannte jeden Mann im LKA nach verräterischen Gesichtszügen. Ihr Chef hatte den Kopf gedreht und studierte die Daten auf einem Wandkalender. Sein Profil wirkte männlich – markante Züge und ein kräftiges Kinn. Morgenstern war zu jung, um ihr Vater zu sein. Bevor Linda die Bürotür schloss, fragte sie sich, ob sie sich ihm anvertrauen könne. Würde er ihr helfen, ihren Erzeuger zu finden?
Seit einem Jahr lebte Linda in Berlin. Nach anfänglichen Querelen hatte sie ihren Platz in der Mordkommission gefunden. Dass die meisten Kollegen sie für eine Karrieristin hielten, lag auch daran, dass sie neben ihrer Arbeit für eine Dissertation forschte. Entwicklung der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung in der BRD im Hinblick auf Vergewaltigungsopfer. Die Doktorarbeit diente einzig und allein dazu, unauffällig im Archiv arbeiten zu können. Neugierige Fragen blieben ihr erspart. So erkundigte sich keiner, warum sie in alten Akten recherchierte und sich für Fälle interessierte, die alle aus dem Jahr 1986 stammten, ihrem Geburtsjahr.
Inzwischen hatte Linda eine Liste aller Mitarbeiter des LKA erstellt, die damals tätig gewesen waren und aufgrund ihres Alters als ihr Erzeuger infrage kamen. Jüngere oder erheblich ältere Kollegen schloss sie aus. Ihre Mutter war damals 29 gewesen. Einige von den Männern auf Lindas Liste arbeiteten im Landeskriminalamt, andere waren die Karriereleiter hinaufgeklettert, wenige hatten, aus welchen Gründen auch immer, den Dienst quittiert. Schließlich war die Gruppe der Verdächtigen auf zwölf Personen geschrumpft. Mit einigen von ihnen arbeitete sie zusammen.
° ° °
Da sich Max Herting freiwillig verpflichtet hatte, die Familie Rogatz zu informieren, beschloss Hans Morgenstern, den Nachmittag damit zu verbringen, die Wohnung der Toten zu besichtigen. Dank Klausens Identifizierung konnte Morgenstern problemlos Sina Rogatz’ Wohnanschrift ermitteln. Sie hatte in einer Wohngemeinschaft in Moabit gelebt.
Wie befürchtet, befand sich die Wohnung im obersten Stock, und natürlich besaß das Haus keinen Fahrstuhl. Morgenstern klingelte, und statt der Frage, wer Einlass begehre, vernahm er nur die verrauschte Stimme einer Frau. »Vierte Etage!«
Morgenstern rannte die Treppe im Vorderhaus hinauf, schnell, ambitioniert, den angefutterten Kilos den Kampf ansagend. Außer Atem stand er schließlich vor der Wohnungstür und klingelte erneut.
Eine junge Frau öffnete und taxierte ihn abfällig. Sie erwartete offensichtlich jemand anderen. »Bringen Sie die Bestellung?«, fragte sie. Die hochgewachsene und sportlich wirkende Frau trug eine zu enge englische Schuluniform. Der karierte Rock war allerdings beträchtlich kürzer, als es an derartigen Lehranstalten üblich war. Er gab den Blick auf grobmaschig bestrumpfte Beine frei, und die gewählte Bluse wurde nur von zwei Knöpfen geschlossen, denen die von einem Korsett gehaltenen Brüste jeden Moment den Garaus zu machen drohten.
Morgenstern hielt entschuldigend seinen Dienstausweis hoch und musste СКАЧАТЬ