Название: Verschwiegene Wasser
Автор: Stephan Hähnel
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955522261
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Nachdenklich nahm Morgenstern das Porträt in die Hand und strich mit dem Daumen liebvoll über das abgebildete Gesicht. Heute war ihr zweieinhalbjähriges Kennenlernjubiläum. Dass er sich mit seinen vierzig Jahren erneut verliebt hatte, hielt er für ein kleines Wunder. Anna bestand darauf, das Jubiläum angemessen zu feiern. Beide konnten auf eine gescheiterte Ehe zurückblicken und gingen behutsam mit dem neuen Glück um. Noch immer knisterte es zwischen ihnen, auch wenn Routine in ihren Umgang Einzug gehalten hatte. Nichts, was Morgenstern Sorgen bereitete – dennoch, er war auf der Hut. Beziehungen verbrauchten sich, wenn man sie nicht pflegte, hatte ihn das Scheitern seiner Ehe gelehrt.
Anna hatte für den Abend eine kulinarische Überraschung angekündigt, ohne auch nur ein winziges Detail zu verraten. Nachfragen brachte nichts, stattdessen hatte sie an jene männliche Intuition appelliert, die ihm verraten sollte, was sie in ihren Töpfen an Leckerem zubereiten würde.
Seit ihrem ersten gemeinsamen Urlaub an der Ostsee zog sie ihn mit diesem Thema auf. Nach ein paar Plastikbechern Wein am Strand hatte er damals von der maskulinen Form der Eingebung gesprochen. Während beide verliebt den Sonnenuntergang beobachtet hatten, behauptete er: »Meine männliche Intuition sagt mir, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, archaische Veranlagungen in körperliche Aktivitäten umzusetzen. Ich finde, wir sollten das Bett der Ferienwohnung durchwühlen.«
Die umständliche Umschreibung seiner Begierden löste bei Anna einen Lachanfall aus. Schließlich erklärte sie mit ernster Stimme: »Männliche Intuition gibt es nicht!«
»Was macht dich da so sicher?«, erkundigte er sich und tat beleidigt.
»Du magst archaische Bedürfnisse haben, aber diesen Druck, den du verspürst …«, sagte sie und kicherte dabei albern, »… also der Druck, Genmaterial weiterzugeben, hängt ausschließlich mit frühzeitlichen männlichen Urängsten zusammen.«
»Wie bitte?«, erwiderte er mit gespieltem Unverständnis, legte schmollend den Kopf auf ihren Schoß und schaute sie vorwurfsvoll an. »Ich hasse es, als Mann nur auf das eine reduziert zu werden. Männer haben auch Gefühle!«
»Selbstverständlich! Hunger und Durst«, entgegnete sie und strich liebevoll mit den Fingern durch sein graumeliertes Haar.
»Du verkennst Männer im Allgemeinen und mich im Besonderen. Y-Chromosom-Träger sind komplexe Lebensformen!«
»Chaotische Zellkonglomerate und erschreckend simpel strukturiert«, konterte Anna. »Männer haben leicht verständliche Bedienungsanleitungen. Frau muss sie nicht erst studieren, um zu wissen, welche Knöpfe gedrückt werden müssen, um ein Ziel zu erreichen. Seit Urzeiten hat sich daran nichts geändert. Essen, Trinken, Gene weitergeben.«
Protestierend hob er den Finger. »So siehst du mich?«
Statt eine Antwort zu geben, küsste sie ihn.
»Ich möchte an meine Ahnen erinnern, die vor 32 000 Jahren in der Chauvet-Höhle in Frankreich lebten. Ich stamme aus einer Linie feingeistiger Urväter, wie noch heute an den beeindruckenden Wandmalereien zu erkennen ist.«
Kopfschüttelnd formte Anna seine Haare zu einem Hahnenkamm, wie zuweilen Punks ihn tragen, und gab zu bedenken: »Woher willst du wissen, dass Männer die Bilder gezeichnet haben?«
Er blieb die Antwort schuldig. Schlimmer noch, er musste sich in Gedanken eingestehen, dass er eine andere Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen hatte.
»Wenn der Mann ständig durch den Wald rennt, um Mammuts zu jagen, entwickeln sich zwangsläufig Ängste. Hinter jedem Baum lauert die Gefahr, gefressen zu werden. Der Weg in die heimische Höhle wird aus unerklärlichen Gründen nicht mehr gefunden. Altersbedingt lassen einen die Mammutjägerkollegen als überdrüssige Last zurück. Zweifelsfrei hat das über Tausende von Jahren zu einem evolutionären Trauma geführt. Mit Intuition, gar männlicher, hat das nichts zu tun. Wenn deine Altvorderen nach Wochen nach Hause kamen, verspürten sie garantiert nicht das Bedürfnis, Wände zu bemalen.«
»Du bist gemein!«, hatte er schmollend geantwortet und behauptet, dass er bei derart negativen Äußerungen eine gewisse Verkümmerung verspüren würde.
Morgenstern stellte Annas Bild schmunzelnd zurück auf seinen Schreibtisch und nahm sich vor, ihr abends zu sagen, wie sehr er sie liebte.
Tatsächlich hatten sie es danach am Strand getrieben, wie Anna es zu nennen pflegte. Er hatte Bedenken geäußert und auf seine Position als Kriminalhauptkommissar hingewiesen. Erfolglos. Anna beherrschte seine Bedienungsanleitung perfekt.
Nein, Morgenstern machte sich im Moment Sorgen, weil eine innere Stimme ihm riet, den Tod der jungen Frau aus der Spree mit gebührender Vorsicht zu behandeln. Biondis Informationen über den Investor Walter Rogatz und die Vorliebe seiner Rechtsanwälte, unliebsame Zeitgenossen mit einem Stakkato von Klagen mundtot zu machen, waren legendär.
Verkompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass Herting darauf bestand, die schreckliche Nachricht vom Tod der Tochter persönlich zu überbringen. »Das schulde ich einem alten Freund«, hatte er mit pathetischer Stimme in der Dienstberatung verkündet und, ohne zu überlegen, behauptet: »Walter würde das Gleiche für mich tun!«
Morgensterns Gesicht musste wie ein offenes Buch zu lesen gewesen sein. Angesichts seiner unverholenen Ungläubigkeit hatte sein Chef verärgert gemeint, dass ein wichtiger Termin seine Anwesenheit fordere. Anschließend hatte er die Beratung missmutig und mit erhobenem Zeigefinger verlassen. »Ich bin durchaus in der Lage, persönliche Empfindungen und kriminalistische Anforderungen unter einen Hut zu bringen.«
Keiner hatte Hertings Predigt kommentiert.
Jeder von Morgensterns Kollegen wusste, auf welches Puzzleteil er sich bei dem Mordfall Sina Rogatz zu konzentrieren hatte. Nur die Vorstellung, Herting weitere zwei Jahre als Chef zu ertragen, sorgte für spürbare Resignation.
Morgensterns spätere Nachfrage, wie Walter Rogatz auf den Tod seiner Adoptivtochter reagiert habe, beantwortete Herting knapp mit den Worten: »Wie erwartet – beherrscht.«
° ° °
Linda Mörike versuchte zwar, ihren Status als Zugezogene zu kaschieren, aber da die Kriminalkommissarin ständig Formulierungen verwendete, die keinem Berliner über die Lippen kamen, verriet sie sich regelmäßig. Fragte ein Kollege danach, wann ihr Dienst begann, lautete ihre Antwort »Viertel vor neun« und nicht, wie in Berlin üblich, »Drei viertel neun«. Sie sagte »an Weihnachten« und nicht »zu Weihnachten«. Beim Bäcker verlangte sie Schrippen erst nach kurzem Zögern, als suche sie die passende Vokabel. Versuche, die Berliner Mundart zu verinnerlichen, scheiterten kläglich. Mit der verabreichten Muttermilch war ihr auch der rheinische Dialekt eigen geworden. Wenn es überhaupt jemanden gegeben hatte, der angenommen hatte, Linda habe Berliner Wurzeln, war er spätestens eines Besseren belehrt worden, als sie zum Nachmittagskaffee eine Spezialität kredenzt hatte, die es wahrscheinlich nur in ihrem Heimatort Niederkrüchten gab: Vollkornbrot dick mit Butter bestrichen und mit Spekulatius belegt. Zu ihrem einjährigen Jubiläum bei der Mordkommission brachte sie eine Platte mit den beliebten Leckerbissen mit. Hans Morgenstern verspürte augenblicklich das Gefühl spitzer Zähne. Paul Brenecke umschrieb die eigenwillige Komposition mit »Geschmacksfasching«. Max Herting, der einen Riecher zu haben schien, wann es in seinem СКАЧАТЬ