Название: In der Vertikale
Автор: Engelbert Guggenberger
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783990404522
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Im Italienischen sagt man zu einer Kletterroute auch Via (Weg). Mir gefällt dieser Sprachgebrauch, besteht doch ein alpines Unternehmen letztlich im Gehen eines Weges, wie steil dieser auch immer sein mag. Wo man sich aber für einen bestimmten Weg entscheidet und ihn bewusst geht, schwingt im Hintergrund mehr mit als das, was man vordergründig vollzieht. Ob man sich dessen bewusst ist oder nicht: Es öffnet sich der Horizont auf die tieferen Schichten des Daseins. Denn jeder kleine Weg ist ein Symbol für den großen Weg, den wir zu gehen haben, den Lebensweg. Unsere Seele, die in archetypischen Bildern denkt und fühlt, nimmt die Botschaft solcher Symbole intuitiv wahr und verarbeitet sie zu unserem Wohl. Aus diesem Grund ist das Gehen eines Weges immer heilsam für unsere Seele, was viele bestätigen, die sich beispielsweise einmal auf den Weg des Pilgerns gemacht haben.
Der Mensch ist ja wesentlich auf dem Weg. Das sieht bereits die antike Philosophie so, die ihn als homo viator bezeichnet, als einen, der Zeit seines Lebens unterwegs ist. Er hat hier keine letzte Bleibe. Der Tod stellt jede Heimat in Frage und zeigt, dass der Mensch in der Welt im Grunde ein Fremdling ist und nach einer ewigen Heimat sucht, wo er sich endgültig niederlassen kann. Novalis, der große Dichter der Romantik, fragt in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen: Wohin denn gehen wir? Und er antwortet: Immer nach Hause. Der Mensch ist nicht bei sich zu Hause, sondern er ist auf dem Weg nach Hause. Und er wird nur ankommen, wenn er sich auf den Weg zu Gott macht, bis er bei ihm für ewig daheim ist. Im Wandern übt er sich in die Bestimmung seiner Existenz ein.
Der Crozzon ist der mächtigste Bergriese der Brenta und ein Symbol für die Größe der Schöpfung.
Das Wandern ist auch ein Hineingehen in mein Wesen, in meine Wahrheit, in meinen Kern. Ein innerer Auszug aus allem, was mich gefangen hält, aus Gewohnheiten, die mich fesseln, aus Bindungen an Menschen, die mich unfrei machen, ein Hineingehen in eine innere Freiheit. Und ich spüre, dass ich auf dem Weg immer weiter muss, nicht stehenbleiben kann, ohne mit mir selbst uneins zu werden. Wenn der Mensch sich treu bleiben will, so muss er gehen, muss sich wandeln, um im Tod als der letzten Wandlung vom Leben ganz durchdrungen und verwandelt zu werden. Dann hat er seine Bestimmung erfüllt, dann ist er endlich angekommen.6
Auf diesen seinem Weg verheißt der Glaube dem Menschen eine göttliche Begleitung. Diese spürt er oft aber gerade in schwierigen Zeiten nicht. Margaret Fishback Powers, die bekannte kanadische Kinder- und Jugendbuchautorin, hat für diese eigenartige Erfahrung eine berührende Deutung gefunden: Am Ende seines Lebens blickte ein Mann zurück. Er sah zwei Fußspuren im Sand; seine und die von Gott, seinem göttlichen Partner. An vielen Stellen seines Lebens war nur eine einzige Fußspur zu sehen. Es war dies an den traurigsten und schwersten Augenblicken des Lebens. Dies beunruhigte ihn sehr. Er fragte Gott: Freund, du versprachst mir einst, du würdest den ganzen Weg bei mir sein, wenn ich nur fest entschlossen wäre, dir zu folgen. Wo warst du, als ich traurig war und es mir schlecht ging? Gott antwortete: Mein Freund, als du traurig warst und es dir schlecht ging, da hatte ich dich auf meinen Händen getragen.7
In meinem Leben bin ich schon viele Wege gegangen, leichte und schwere, lange und kurze. Einen Weg aber werde ich nie vergessen. Er sollte der längste meines Lebens werden. Zu dem einschneidenden Ereignis ist es auf folgende Weise gekommen: Mit meinem Kletterfreund Daniel Wernitznig aus Spittal an der Drau träumte ich schon seit langem davon, einmal in der Brenta zu klettern. Wie oft schon setzten wir zum Sprung in den südlichsten Teil der Dolomiten an. Doch dann hielt das Wetter wieder einmal nicht oder die Urlaubstage reichten nicht. Für die Brenta aber braucht man Zeit und gute Witterung. Die Gipfel sind hoch und die Touren lang. Ein Wettereinbruch am Crozzon di Brenta beispielsweise kann zur tödlichen Falle werden. Denn fällt dann auch noch der typische Brenta-Nebel ein und verliert man beim elendslangen Abstieg über die Cima Tosa die Orientierung, findet man auch nicht mehr zur Biwakschachtel zurück, die auf dem Gipfel des Crozzon aufgestellt wurde, um die in Not geratenen Seilschaften zu retten.
Im Sommer 2012 ist es endlich so weit. Einigermaßen stabiles Wetter ist vorausgesagt. So starten wir zum großen Unternehmen. Mehrere Touren stehen am Programm. Aber alles hängt an der Frage, wie lange das Wetter hält. Wir steuern Madonna di Campiglio an, den italienischen Nobelskiort und zentralen Ausgangspunkt für den Einstieg in die Brentagruppe. Beim Rifugio Vallesinella parken wir unser Auto und machen uns zu Fuß zur Brentei-Hütte. Da kann ich heute gleich mehrere Rosenkränze beten, schießt es mir durch den Kopf, als ich das Schild lese: Rifugio Brentei: 2 ore (2 Stunden). Die Zustiege zu den Hütten oder zu den Touren nütze ich gerne für meine tägliche Meditation. So stapfen wir in Gedanken versunken dem hoch gelegenen Schutzhaus zu. Dort werden wir schon erwartet. Ich habe mit dem Hüttenwirt Claudio Detassis bereits vor Tagen telefoniert und für Angelo e Daniele (Engelbert und Daniel) una camera doppia (ein Doppelzimmer) reserviert.
Der nächste Tag sollte eine erste Begegnung mit dem neuen Ambiente bringen. Ganz ernst ist uns aber nicht, als wir in die Via Aste am Crozzon di Brenta einsteigen, dafür sind wir viel zu spät dran. Im mittleren Teil geraten wir dann zudem noch in eine andere Route, die Via Los Angeles, mit der sich Renzo Vettori hier verewigt hat. Wir kennen den Namen dieses überragenden italienischen Felsakrobaten bereits von seiner Route Mescalito, die wir im Frühjahr im bekannten Klettergebiet von Arco am Gardasee geklettert sind. Auch diesmal sollte uns die Begegnung mit einer seiner Touren Glück bringen. Die Los Angeles hält uns so lange auf, dass wir uns heute einmal unisono für den Abbruch der Tour entscheiden. Dies ist auch noch relativ leicht möglich, weil wir rechts aus der Wand flüchten können und bald in weniger geneigtes Gelände gelangen. Über Schneefelder, die jetzt am Nachmittag gut aufgefirnt sind, fahren wir ab und erreichen im Nu unseren Stützpunkt, das Rifugio Brentei.
Durch den erzwungenen Abbruch der Tour etwas gereizt, jedoch dadurch auch besser akklimatisiert, sind wir jetzt in der richtigen psychischen Spannung, die man für Höchstleistungen braucht. Und eine solche sollte uns abverlangt werden. Der Crozzon di Brenta ist eine überaus imposante Erscheinung, entsprechend lang sind die Touren, die auf seinen Gipfel führen. Als überdimensionaler Wächter über das Brentatal stellt er ein wahres Symbol der Größe der Schöpfung dar. Er ist, was sein Name Crozzon bedeutet, ein steiler Felsen, der mächtigste Bergriese der gesamten Gruppe. Wie die in Stein geballte Kraft wächst der Koloss hinter dem Rifugio Brentei empor. Seine Nordostwand wird von zwei auffallenden schwarzen Wasserstreifen durchzogen. Den rechten Streifen entlang führt in idealer Linienführung eine der schönsten Routen der gesamten Dolomiten: die Via delle Guide, die erlesenste Perle des großen Brenta-Meisters Bruno Detassis. Eine Kletterei über 800 Höhenmeter an steilem, wasserzerfressenem, kompaktem Plattenkalk. Und eben diese hatten wir uns ausgesucht.
Der Gipfel des Crozzon ist durch einen langen Grat mit der Cima Tosa verbunden. Von dort zieht ein Eisfeld bis zum Wandfuß in ununterbrochenem Fluss wie eine weiße Zunge herab, tausend Meter lang. Ich habe ein so imposantes und völlig geschlossenes Eisfeld noch nie gesehen. Ob ich mich wohl getrauen würde, es mit Firngleitern zu befahren? Im aufgefirnten Zustand schon, sagt der Kalkulator meines alpinen PCs im Gehirn. Aber vorerst haben wir andere Sorgen. Wir sind im Morgengrauen aufgebrochen und stehen jetzt an einem steilen, pickelharten Schneefeld, das uns den Zugang zum Einstieg der Via delle Guide versperrt. Mit unseren Turnschuhen können wir keine Stufen schlagen. Doch wir haben einen leichten Pickel dabei. Mit ihm stellen wir uns dem ungleichen Kampf und tragen nach einigen Mühen einen knappen Sieg davon.
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