Название: Leben - Wie geht das?
Автор: Matthias Beck
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783990402306
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Bei ihrer Suche nach der „Wahrheit“ entdeckt die Naturwissenschaft immer wieder Neues, aber die ganze „Wahrheit“ erkennt sie nie. Das Ganze entzieht sich ihrem Zugriff. Das Ganze ist nur vom Ganzen her zu erkennen und nicht aus der empirischen Forschung von den Einzelteilen her. In allen „Einzelerkenntnissen“ zeigt sich aber eine andere Art von Wahrheit, die eigens reflektiert werden kann: Die Naturwissenschaft und die Naturwissenschaftler gehen nämlich implizit davon aus, dass die Welt geordnet ist, sonst könnten sie gar keine Naturwissenschaft betreiben. Nur wegen dieser Ordnung ist es möglich, weltweit Forschungsergebnisse zu vergleichen: Zellen, Gewebe, Organe wachsen bei gleichen Bedingungen in Europa genauso wie in den USA und in China. Das ist ja der Siegeszug der modernen Naturwissenschaften. Sie funktionieren auf der ganzen Welt, unabhängig von kulturellen Kontexten.
Allerdings bedeutet diese Ordnung nicht, dass alle physiologischen Abläufe bereits genau festgelegt sind. Die Ordnung im Lebendigen ist keine festgelegte Starrheit, sondern höchste Form von Flexibilität, Komplexität, ständiger Wechselwirkung und Dialog. Gerade die Erkenntnisse der modernen Biologie bringen im Kontext der Genetik viel von diesem Wechselwirkungsgeschehen ans Licht. Denn die Gene enthalten nicht die ganze Information für den Organismus. Sie sind nur die Grundinformation und müssen ständig an- und abgeschaltet, aktiviert und inaktiviert werden. Nur in diesem ständigen Wechselwirkungsgeschehen entsteht Information für den Organismus (worauf später genauer eingegangen wird.) Diese Prozesse sind hochkomplex und laufen in jeder Sekunde im Organismus milliardenfach und unbemerkt ab. Sie geschehen „von selbst“, selbstverständlich und ohne Geräusch. Erst wenn die Prozesse entgleisen, nimmt man sie als Krankheit oder Schmerz wahr. Gesundheit merkt man nicht, Krankheit wird spürbar.
Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall, Ordnung und Freiheit gehen Hand in Hand. Gerade dieses Zusammen von Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall macht das Lebendige aus. Gäbe es die Ordnung nicht und herrschte nur der Zufall, gäbe es den Zufall nicht mehr. Denn gäbe es nur Zufall, wäre der Zufall aufgehoben. Zufall kann es nur im Kontext von Ordnung geben. Außerdem würde im Kontext des dauernden Zufalls kein Organismus mehr funktionieren. Das Herz muss immer schlagen und das Auge immer sehen. Es darf nicht plötzlich anfangen zu hören. Gäbe es andererseits innerhalb der Ordnung nicht den Spielraum, die Veränderbarkeit und die „Freiheit“, gäbe es keine Weiterentwicklung. Alles wäre starr festgelegt. Beides also ist notwendig: Ordnung und Freiraum. Noch einmal anders: Wäre alles zufällig und beliebig, käme die Ordnung durcheinander und der Mensch hätte nie entstehen können. Eine derartige Unordnung zeigt sich zum Beispiel bei Krebserkrankungen.2 Bei diesen Erkrankungen ist die Ordnung gestört und Zellen aus der Lunge tauchen plötzlich im Gehirn auf. Da gehören sie nicht hin. Diese Zellen nennt man Metastasen. Eine solche Unordnung ist mit dem Leben nicht vereinbar.
Auch im Kosmos herrscht diese Ordnung: die Sonne geht jeden Morgen im Osten auf und nicht mal im Süden, mal im Westen oder mal im Norden. (Wir wissen längst, dass die Sonne überhaupt nicht aufgeht, sondern dass die Erde sich dreht und es so aussieht, als ginge die Sonne auf.) Ginge sie morgen im Süden und übermorgen im Westen auf, hörte die Welt auf zu existieren. So gibt es eine Ordnung im Kosmos, in der Natur, im Organismus, im Inneren des Menschen, auch im menschlichen Geist. Dort ist es die Ordnung der Logik und des logischen Denkens, das sich nicht in Widersprüchen bewegen darf. So ist die Ordnung auf jeder Ebene eine andere und dennoch durchzieht sie das ganze Sein. Sie besteht im Kosmos in der Ordnung der Planeten und Sterne, im Lebendigen in einem ständigen Wechselwirkungsgeschehen zur Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichtes im Organismus und im menschlichen Geist in der Logik des Denkens und der Ausrichtung auf den logos.
Die Ordnung ist im biologisch Lebendigen vorgegeben und muss gleichzeitig im Lebensvollzug immer wieder eingeholt werden. Das erfordert Aufwand und „Arbeit“. Das Tote neigt zur je größeren Unordnung, wie die Physik herausgearbeitet hat. Diese Tendenz zur Unordnung wird als Entropie bezeichnet. Im Lebendigen muss dieser Neigung zur Unordnung durch Energiezufuhr immer wieder entgegengewirkt werden. Daher spricht man auch von negativer Entropie im Lebendigen.3 Diese Ordnung und die Tendenz zur Unordnung gibt es in anderer Weise auch im Seelischen und im Geistigen. Auch dort neigt das „Tote“ im übertragenen Sinn zu Unordnung, Zerstreuung und Desintegration. Dieser Tendenz zur seelisch-geistigen Zerstreuung und Desintegration muss ebenfalls durch je neue Integrationsarbeit entgegengearbeitet werden.
Im Griechischen wird die Kraft zur Desintegration und Zerstreuung mit dem Begriff des Dia-bolos belegt (dia-bolos kommt von dia-ballein: zerstreuen, auseinanderreißen). Diesem Begriff steht jener des Sym-bols (von sym-ballein zusammenwerfen) gegenüber. Er weist auf die integrierenden Momente des Lebens hin. Es wird im Laufe des Buches zu zeigen sein, wie die desintegrierenden Kräfte im Menschen je neu zusammengehalten und integriert werden können und was diese Integrationsarbeit mit dem Begriff des Symbols zu tun hat.
2. Die Vieldimensionalität des Lebens und der Selbststand
Das menschliche Leben hat viele Dimensionen. Das ist eine triviale Aussage. Spannend aber wird die Frage, wie diese Dimensionen sich gegenseitig im Leben durchdringen. Wissenschaftstheoretisch müssen die verschiedenen Ebenen von Naturwissenschaft, Medizin, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Theologie genau auseinandergehalten4 werden und greifen doch im konkreten Leben ineinander. Die Naturwissenschaften versuchen, die Welt und die Einzeldinge in ihrer Ausdehnung und Messbarkeit zu erfassen (res extensa bei René Descartes), die Geisteswissenschaften befassen sich mit dem Nicht-Ausgedehnten und Nicht-Messbaren des menschlichen Geistes (res cogitans). Diese Sichtweise des Descartes impliziert zwar einen Leib-Seele-Dualismus in der Unterscheidung von Geist und Materie, aber diese Unterscheidung ist zunächst geeignet, um die unterschiedlichen Perspektiven aufzuzeigen. Sie wachsen heute mehr und mehr zusammen.
Es gibt Phänomene im Leben, die sich der Messbarkeit und Wägbarkeit entziehen. Es wäre unsinnig, das Gewicht oder die Zentimeter von Gedanken oder von Liebe und Treue bestimmen zu wollen. Im menschlichen Lebensvollzug existiert beides zugleich: die messbaren physiologischen Veränderungen im Organismus (Zellveränderungen, Blutwerte, Hormone) und die nichtmessbaren Phänomene wie Liebe, Treue, Vertrauen, Wahrheit. Außerdem gibt es noch die emotionale Gefühlsebene, die von der Psychologie betrachtet wird. Alle Dimensionen sind im Menschen gleichzeitig „da“, sie dürfen wissenschaftlich gesehen nicht vermischt, im Lebensvollzug aber auch nicht von einander getrennt werden. Auch hier gilt: unvermischt und ungetrennt.
Eine naturwissenschaftlich geprägte Welt geht oft davon aus, dass nur das existent ist, was messbar ist und übersieht dabei, dass die größere Zahl von alltäglichen Vollzügen des menschlichen Miteinanders gerade nicht messbar ist. Es sind dies die geistigen Vollzüge und die täglichen personalen Begegnungen. Jeder Gedanke, jedes Versprechen, jede Liebe und Treue sind in dem Sinne zunächst nicht messbar. Zwar versucht die Hirnphysiologie immer wieder, auch den Vollzug des Denkens messbar zu machen und die hirnphysiologischen Veränderungen beim Denken und Fühlen darzustellen. Aber mit diesen Messungen erfasst man nur die „Außenseite“ eines Gedankens oder eines Gefühls, nicht aber den Gedanken, das Gefühl oder das Phänomen der Liebe selbst. Das Messbare ist die objektive Sicht auf ein Phänomen (auch als die „Dritte-Person-Perspektive“ bezeichnet), während das subjektive Erleben und der subjektive Vollzug („Erste-Person-Perspektive) kaum messbar ist.
So sehr es hilfreich ist, hirnphysiologische Veränderungen im Gehirn liebender Menschen, meditierender Mönche oder betender Menschen aufzuzeichnen, so wenig erfasst man doch die Liebe als Liebe oder das Gebet als Gebet. Man kann auch bestimmte Konfliktsituationen im Gehirn darstellen, aber damit ist der Konflikt noch nicht als Konflikt in seiner existentiellen Bedeutung für zwei Menschen begriffen. Man erfasst nur eine Korrelation zwischen Gedanken und hirnphysiologischen Veränderungen, nur die äußeren Wirkungen eines inneren Geschehens. Vor allem kann man nicht sagen – wie manche Hirnphysiologen es tun – dass die Veränderungen im Gehirn die Ursache für den Gedanken, der Konflikt, die Tat, der Liebe sind. Man kann nur von einer Korrelation zwischen Gedanken und Veränderungen im Gehirn sprechen.5
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