Название: Kempinski erobert Berlin
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783955522483
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Eines der Lieblingsspiele der Raschkower Jungen und Mädchen war immer noch Barrikadenkampf. Es war gerade einmal sieben Jahr her, dass die Märzrevolution Deutschland erschüttert hatte. Eine zerfallene Feldscheune an der Straße nach Ostrowo war ein Wohnhaus am Berliner Alexanderplatz. Die Barrikade bestand aus den Resten eines Heuwagens, einigen Brettern und etlichem Gerümpel. Auf einem löchrigen Waschzuber stand Berthold Kempinski und war der Tierarzt Ludwig Urban, der Anführer der Demokraten. Er und seine Aufständischen hatten vom nahen Acker Kartoffeln aufgelesen und bewarfen damit die anstürmenden Truppen, die von Ludwig Liebenthal kommandiert wurden.
»Attacke!«, schrie Ludwig Liebenthal. »Feuer frei!«
Daraufhin schossen seine Soldaten aus ihren Blasrohren Holunderbeeren ab. Da die Kartoffeln wirksamer waren als die Beeren, musste er aber schnell den Rückzug antreten. Auf der Barrikade wurde enthusiastisch gejubelt. Erst jetzt merkte man, dass einer der Kämpfer, nämlich Ernst Schlüsselfeld, der Sohn des Apothekers, von einem Geschoss getroffen worden war.
»Ins Auge rein!«, schrie er und sank zu Boden. Ob es nun wirklich Blut war oder nur der Saft der Holunderbeere, war nicht zu erkennen, was aber auch egal war.
»Der ist tot«, rief Ludwig Liebenthal.
»Majestät, Hut ab vor den Märzgefallenen«, erscholl es nun von der Barrikade. Und prompt kam Friedrich Wilhelm IV., der nahebei an einer Eiche gelehnt hatte, an die Barrikade und entblößte sein Haupt.
Es tat der Größe dieser Szene keinen Abbruch, dass Seine Majestät von einer Frau gespielt wurde, nämlich von Luise Liebenthal. Sie war ein Jahr älter als ihr Halbbruder und wurde von Berthold Kempinski angebetet. Über ihren Vater wusste man genauso wenig wie über den Ludwigs. Es sollte beim Schiffer-Silvester in Breslau passiert sein. Ihre Mutter hatte aber immer nur geschwiegen. Luise hatte etwas von einer Meisje an sich, und so tippte man darauf, dass ihr Vater ein holländischer Schiffer war. Luise war aus dem Armenhaus ausgezogen und als Mädchen für alles bei den Tschirnaus untergekommen, Raschkower Ackerbürgern, die zwar im Schatten des Rathauses wohnten, aber von der Pferdezucht lebten und Hafer anbauten. Ihnen gehörten Äcker und Wiesen rund um die alte Feldscheune, und Luise war gerade gekommen, um für die Kühe Wasser in den Trog zu pumpen.
Damit war ihr Spiel eigentlich zu Ende, und die Jungen um Berthold Kempinski und Ludwig Liebenthal überlegten, ob sie zum Baden gehen sollten und doch lieber nach Hause, da nahte Karl-Michael Schmeisel mit seinen Kameraden. Vorhin hatte man ihn nicht mitspielen lassen, jetzt kam die Rache.
»Ich bin General Wrangel!«, schrie er. »Immer rauf auf die Revoluzzer! Alles niedermachen! Die Juden zuerst.«
Er war der Sohn des Fleischers hinter dem Markt und hatte etwas gegen die Juden, weil sie so anders waren. Sie feierten andauernd komische Feste und nicht Weihnachten wie jeder vernünftige Mensch. Außerdem kauften sie nichts bei seinem Vater. Sonderlich intelligent war er nicht, aber er hatte schnell begriffen, dass es schön war, Feinde zu haben, auf die man bei Bedarf einschlagen konnte. Hinterher kam man sich immer großartig vor.
Säbel hatten Schmeisels Soldaten nicht, aber dicke Stöcke, deren Rinde schönes Schnitzwerk zierte, und mit denen hieben sie auf Berthold Kempinski und die Seinen ein.
Nun geschah etwas, was es 1848 in Berlin nicht gegeben hatte: Die Barrikadenkämpfer solidarisierten sich mit den Soldaten und machten Front gegen General Wrangel und seine Truppen.
Nur gut, dass in diesem Augenblick Dr. Dramburger in seinem Einspänner vorbeikam und die Kampfhähne wieder auseinanderbrachte, es hätte wohl ernsthaftere Verletzungen gegeben. Erst neulich war einem Jungen bei einer ähnlichen Auseinandersetzung ein Auge ausgeschossen worden.
»Was soll denn der Unfug!«, rief er.
»Wir haben nur Barrikadenkampf gespielt«, sagte Berthold Kempinski.
»Na, dann ist ja gut«, murmelte Dr. Dramburger.
Der Geburtstag des Vaters war für Berthold wie für jedes seiner vielen Geschwister immer ein ganz besonderer Tag, denn Raphael Kempinski verstand es zu feiern. Zwar stand sein vierzigster Geburtstag schon ein wenig im Schatten der beginnenden Erkrankung seiner Frau, aber Rosalie beschwor ihn händeringend, alle einzuladen, die ihm nahestanden oder irgendwie geschäftlich wichtig waren, und dem Frohsinn keine Zügel anzulegen, wie sie es ausdrückte.
An der langen, in Form eines Hufeisens aufgestellten Tafel im Hof hinter dem Haus hatten genau vierzig Gäste Platz genommen, darunter viel Prominenz aus den südöstlichen Kreisen der Provinz.
An der Spitze der anwesenden Honoratioren stand zweifellos der Gutsbesitzer Friedrich Wilhelm von Kraschnitz, gebürtiger Niederbayer aus Landshut. Auf 72 Jahre hatte er es schon gebracht und fühlte sich auf seinem Gut am Olobok mehr als wohl. Er hatte sich auf den Obstanbau und die Schweinezucht spezialisiert und belieferte die Märkte in Adelnau, Ostrowo und Krotoschin.
Das Fürstentum Krotoschin, in den Kreisen Krotoschin und Adelnau gelegen, hatte 1819 der Fürst von Thurn und Taxis für die Abtretung seiner Rechte in den preußischen Rheinlanden an die Königliche Post erhalten. In seinem Sog war Kraschnitz nach Posen gekommen. Die Nähe zu den Radziwiłł, die in der Nähe von Raschkow Ländereien und das Jagdschloss Antonin besaßen, schmückte ungemein und brachte ihn der polnischen Kundschaft nahe, denn der Fürst Anton Radziwiłł hatte als preußischer Statthalter in Posen deren Interessen mit Nachdruck vertreten.
Obwohl dreißig Jahre jünger als Kraschnitz, war der Adelnauer Landrat Gustav Gnadenfroh von ähnlicher Bedeutung. Gnadenfroh kam aus dem brandenburgischen Neuruppin, hatte in Berlin Jura studiert und war in den Staatsdienst eingetreten. Leider waren seine Noten nicht gut genug gewesen, um in Berlin in einem der wichtigen Ministerien unterzukommen, und nicht einmal für den Niederrhein hatte es gereicht. Als man ihn über seine letzte Versetzung informiert hatte, war zunächst Freude bei ihm aufgekommen, denn er hatte Adenau verstanden, und das lag in der Provinz Rheinland, wo sich nicht nur trefflich Karriere machen ließ, sondern die Nähe zu Frankreich auch vielerlei Genüsse versprach. Doch Adelnau… nur einen Steinwurf von Polen entfernt – mein Gott. So schneidig er sich gab, so weich war er, und wenn ihn seine Frau nicht in die Mangel genommen hätte, wäre er als Selbstmörder begraben worden. Seine Waffe hatte schon durchgeladen in der Schublade gelegen.
Ein wichtiger Mann, wenn auch von ganz anderer Ausrichtung als die beiden zuerst genannten Herren, war der Arzt Dr. Richard Dramburger, 1801 in Berlin zur Welt gekommen. Dort hatte er im März 1848 auf den Barrikaden am Alexanderplatz gekämpft und war nach dem Sturm auf das Zeughaus Richtung Osten geflüchtet, um sich General Wrangel und dessen Kavallerie zu entziehen. In einem Nest wie Adelnau zu praktizieren war allemal besser, als eine langjährige Strafe auf der Festung Graudenz abzusitzen. Seine Frau war schon lange tot, seine Kinder lebten in den preußischen Rheinprovinzen – was blieb ihm da anderes als seine Bienen und sein Rotwein. Abgesehen von dem schönen Gefühl, ab und an einem Menschen das Leben gerettet zu haben. Manchmal aber wäre es wohl besser gewesen, dies zu unterlassen, denn auch im Kreise Adelnau gab es eine Menge Widerlinge und Kotzbrocken. Dass er von den Behörden als Jude geführt wurde, interessierte ihn wenig, denn recht eigentlich war er Atheist und empfand jedwede Religion als Volksverblödung.
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