Название: Malefizkrott
Автор: Christine Lehmann
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783867549509
isbn:
Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den Wolkenhimmel, der schmal zwischen den Hausdächern stand.
»Was wolltest du vorhin noch sagen?«, fragte ich. »Das Buch sei so selten, dass du dich gefragt hast …«
»Ja das …« Richard zog sich Teer und Nikotin mit gequälter Miene tief in die Bronchien. Rauchen tut weh, und so sah er auch aus. »Ich wollte mir ein unverfänglicheres Exemplar von Schloss und Fabrik besorgen …«
»Thalheim in Reinform!«
»Dabei musste ich feststellen, dass es sehr selten ist. Es ist mir nicht gelungen, es über Fernleihe zu kriegen. Nicht einmal die Volksausgabe von 1869.«
»Fernleihe?« Ich zog ungebildet die Brauen hoch. Ich hatte nie studiert.
»In den Landes- und Unibibliotheken gibt es viel, aber nicht alles.« Für mich zog Richard nur zu gern alle Schubladen und Karteikästen unnötig gewordener Weltkenntnis auf. »Wenn man ein Buch trotzdem haben wollte, füllte man einen Fernleihschein aus, mit Schreibmaschine: Autor, Titel, Erscheinungsort, Erscheinungsjahr. Den gab man ab, zusammen mit einer Mark fünfzig und einer Postkarte mit der eigenen Adresse, die einem zugeschickt wurde, wenn das Buch eingetroffen war.«
»Eine feine Sache!«
»Ja. Die Bibliothekarin suchte in ihren Katalogen nach der nächstgelegenen Bibliothek, die das Buch im Bestand hatte, und schickte den Fernleihschein dorthin. In meinem Fall war das Frankfurt. Dort aber war das Exemplar von 1846 verschollen. Und auch von der Volksausgabe, die auf Wunsch der Arbeiter in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gedruckt wurde, war kein Exemplar vorhanden. Ich schrieb einen Brief und erhielt eine höfliche Antwort, dass man mir keine Auskunft geben könne, wer wann welches Buch ausgeliehen habe. Fernleihscheine würden nach Abschluss der Ausleihe stets vernichtet. Außerdem seien große Teile des alten Bestandes beim Brand von 1943 zerstört worden.«
»Ich verstehe nicht …«
»Was verstehst du nicht?«
»Wieso fragst du die Bibliothek, an wen die das Buch ausgeliehen hatte?«
»Weil das Buch irgendwoher kommen musste, Lisa.«
»Fotokopieren?«, schlug ich vor.
»Damals hat man nicht fotokopiert! Kopierer wurden erst Mitte bis Ende der siebziger Jahre üblich. Nein, Lisa. Jemand hat 1967 das Original auseinandergenommen, Fremdtexte eingebunden und das Exemplar mit einem neuen Einband versehen. Und ich habe mich gefragt, wo das Original herkam. Und da es so selten war …«
»Ah, verstehe.« Aber so richtig immer noch nicht. »Warum haben die denn so ein seltenes Exemplar genommen? Gut, sie wollten Fraktur, weil das eh keiner lesen kann oder will. Aber dann hätten sie auch Courts-Mahler oder Karl May nehmen können. Davon hatten wir noch in Fraktur gedruckte Exemplare in meiner Schulbibliothek.«
»Eben! Warum ausgerechnet Schloss und Fabrik?«
»Ah!« Auf den kurzen Moment der Erleuchtung folgte Finsternis. »Äh, und warum?«
»Weil die Person, die das Buch verwendet hat, nicht wusste, wie selten es ist. Sie hat es für irgendeinen alten Schmacht-Schinken gehalten. Mir wurde auf einmal klar, dass sie es nicht ausgeliehen haben konnte. Es muss sich in der Privatbibliothek des Vaters ebendieser Person oder in der elterlichen Bibliothek einer befreundeten Person befunden haben. Womöglich beschädigt, weshalb es wertlos erschien. Außerdem musste die betreffende oder eine mit ihr befreundete Person Kenntnisse in Buchbinderei haben.« Richards Augen glitzerten heute noch jagdlustig.
»Und sie musste in Stuttgart studiert haben«, sagte ich.
»Eher in Tübingen. Niemand hat in Stuttgart studiert. Außerdem …« Ein winziges Lächeln kräuselte Richards Mundwinkel. Er versuchte es zu verbergen, indem er sich abwandte, um die Zigarette am Aschenbecher abzutippen.
»Also, wie hast du es rausgekriegt?«
»Ich habe ans Schwarze Brett in der Uni Tübingen einen Zettel gehängt. Auf dem stand: Liebhaberexemplar Schloss und Fabrik, Leipzig, 1846 günstig abzugeben. Dazu meine Telefonnummer, vielmehr die meiner Zimmerwirtin.«
»Und?«
»Ich bin täglich vorbeigegangen, um nachzuschauen. Eines Tages stand an der Wand mit den Anschlägen eine … eine junge Frau.« Richard zog an der Zigarette.
Ich auch.
»Sie studierte die Angebote für Studentenbuden, Lehrbücher, Fahrräder und so weiter und kam zu meinem Zettel und … riss ihn ab. Sie steckte ihn in die Manteltasche und verließ hastig das Gebäude. Ich folgte ihr.«
»Hehe!«
»Damals fand ich es ziemlich kompliziert, junge Frauen anzusprechen. Ich hatte zwei Kilometer Zeit, alle Varianten durchzuspielen. Dann betrat sie in der Philosophenstraße am Nordring ein Studentenwohnheim. Ihr dort hinein zu folgen wagte ich nicht. In den sechziger Jahren, zumindest in denen, aus denen ich kam, siezten Studenten sich noch. Und man stellte sich förmlich vor.«
Ich lachte. »Du warst total verknallt! Wie hübsch!«
»Ich wartete auf ihren Anruf bei meiner Zimmerwirtin, aber er kam nicht. In den folgenden Tagen führte mich mein Weg immer wieder durch die Philosophenstraße. Einmal sah ich sie herauskommen, einmal kam sie gerade zurück, ohne dass ich fähig war, sie anzusprechen. Aber ich hörte, wie eine Freundin sie Marie rief!«
»Das ist ja Literatur, Richard.«
»Ja, sie war die Marie von Goethe bis Böll, die Marie, an die wir uns verlieren, die wir anbeten, die wir nicht kennen, nicht verstehen, von der wir meinen, dass sie uns gehören müsste, die uns verlässt. Meine Marie war schlank, brünett, sie trug Kostüme und Röcke, sie hatte mandelförmige Augen. Ich sah sie und fühlte mich ihr vertraut, als kennten wir uns schon seit der Kindheit. Natürlich war sie für mich unerreichbar. Dennoch folgte ich ihr in Seminare. Sie studierte Anglistik und Geschichte, und die Professoren kannten sie mit Namen: Marie Küfer.«
»Dann stammte Schloss und Fabrik aus ihrem Elternhaus.«
»Mag sein. Ich habe sie nicht gefragt.«
»Aber geredet habt ihr schon miteinander?«
Richard lächelte schief. »Eines Tages setzte sie sich in der Kantine zu mir an den Tisch. Rein zufällig, es waren zwei Plätze frei. Bei ihr war ihr Freund. Sie nannte ihn Wolfi. Ich kannte ihn bereits. Er verwickelte die Professoren gern in endlose Diskussionen über die herrschenden Verhältnisse und die Generation der Täter. Er gehörte dem SDS an, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund.«
»Dutschke und Konsorten?«
Richard nickte. »Es lag in der Natur der Sache, dass Wolfi mir nicht sonderlich gefiel. Und ich war absolut überzeugt, dass der nicht der Richtige für Marie sei. Ich hielt ihn für einen selbstverliebten, rücksichtslosen Egozentriker.«
»Darin stimme ich dir vollinhaltlich zu!«
Richard versuchte eine Grimasse ironischer Ergebenheit, aber sie misslang ihm. СКАЧАТЬ