Ketzer. Gerd Ludemann
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Название: Ketzer

Автор: Gerd Ludemann

Издательство: Автор

Жанр: Религия: прочее

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isbn: 9783866744783

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СКАЧАТЬ mit allen daraus sich ergebenden Eigenschaften wertet. Wir haben uns längst angewöhnt, sie aus ihrer Zeit heraus zu begreifen, die Evangelien als mehr oder weniger gelungene Versuche, das Leben Jesu zu erzählen, die Paulusbriefe als Gelegenheitsschriften, an bestimmte, unwiederholbare Sachlagen gebunden mit örtlicher wie zeitlicher Beschränkung ihres Geltungsbereiches. So müssen wir auch den ›Ketzern‹ gegenübertreten. Auch sie wollen wir aus ihrer Zeit heraus erfassen und messen sie nicht an einer werdenden oder gar der späterhin fertiggewordenen Kirchenlehre als dem Normalmaßstab …

      Um alle modernen Stimmungen und Urteile von vornherein auszuschließen, gehe ich von der Auffassung aus, welche die alte Kirche bereits im 2. Jahrhundert bezüglich der Ketzer und ihrer Lehren hegt, und prüfe sie auf ihre Haltbarkeit in der Hoffnung, bei solchem kritischen Verfahren einen Weg zum Ziel zu finden. Der kirchliche Standpunkt umfaßt etwa die folgenden Hauptgesichtspunkte:

      1. Jesus offenbart die reine Lehre seinen Aposteln, teils vor seinem Tode, teils in den vierzig Tagen vor der Himmelfahrt.

      2. Nach seinem endgültigen Scheiden teilen die Apostel die Welt unter sich und jeder bringt dem Lande, das ihm zugefallen, das unverfälschte Evangelium.

      3. Auch nach dem Tode der Jünger breitet sich dieses weiter aus. Doch erwachsen ihm jetzt Hemmungen innerhalb der Christenheit selbst. Der Teufel kann es nicht lassen, Unkraut in das göttliche Weizenfeld zu säen; und er hat Erfolg damit. Von ihm verblendet geben gewisse Christen die echte Lehre preis. Die Entwicklung vollzieht sich in folgender Weise: Unglaube, Rechtglaube, Irrglaube. Dafür, daß man den Unglauben unmittelbar mit dem vertauschen könne, was die Kirche Falschglauben nennt, zeigt sich kaum irgendwo auch nur eine Ahnung. Nein, wo es Häresie gibt, muß zuvor Orthodoxie bestanden haben. ›Alle Ketzer‹, sagt etwa Origenes, ›kommen zuerst zur Gläubigkeit; später weichen sie dann von der Glaubensregel ab.‹…

      4. Natürlich ist der rechte Glaube unüberwindlich. Trotz aller Bemühungen des Satans und seiner Werkzeuge drängt er Unglauben und Irrglauben zurück und greift siegreich immer weiter um sich. An dieser Überzeugung Kritik zu üben, ist der Wissenschaft nicht schwer gefallen. Sie weiß, daß mit Jesus noch nicht die Kirchenlehre da war; ebenso daß die Zwölf Apostel keineswegs die Rolle gespielt haben, die man ihnen aus Rücksicht auf die Reinheit und Offenbarungsmäßigkeit des Dogmas zuweist. Auch weigert sich eine Geschichtsbetrachtung, die diesen Namen verdient, hier die Gegensätze von Wahr und Unwahr, Böse und Gut in Anwendung zu bringen. Von der den Ketzern nachgesagten sittlichen Minderwertigkeit läßt sie sich nur schwer überzeugen … Dann jedoch kommt früher oder später ein Punkt, an dem die Kritik erlahmt. Allzu leicht … beugt sie sich der kirchlichen Meinung über das Früh und Spät, das Ursprünglich und Abhängig, das Wesentlich und Unwichtig für die Urgeschichte des Christentums. Ist mein Eindruck zutreffend, so geht die ganz überwiegend geteilte Auffassung auch heute dahin, daß schon für die Anfangszeit die Kirchenlehre – natürlich nur auf irgendeiner Stufe der Entwicklung – das Primäre darstellt, die Häresien dagegen irgendwie eine Abwandlung des Echten sind. Ich will nicht sagen, daß diese Anschauung falsch sein müsse, aber ich kann sie ebensowenig für selbstverständlich oder gar für bewiesen und sichergestellt ansehen. Vielmehr liegt hier ein Problem vor, um das man sich mühen muß.«71

      Bauers Methode wurzelt ganz im Historismus, der von einer Autonomisierung des historischen Bewusstseins72 geprägt ist. Sie setzt die Gültigkeit historischer Fakten voraus und scheut sich nicht, wissenschaftliche Erkenntnisse mit kirchlichen Behauptungen kritisch zu konfrontieren.73 Bauer ist demnach ebenfalls Vertreter einer profanen Kirchengeschichtsschreibung,74 deren Aktualität und Fruchtbarkeit im Folgenden zu erweisen sein wird.

      Die Übernahme seines Ansatzes bedeutet nicht, dass ich mit den Einzelergebnissen seiner Arbeit stets übereinstimme. So waren am Ende des 2. Jh.s die ketzerischen Lehren bzw. das, was die offizielle Kirche als häretisch ansah, nicht unbedingt identisch mit dem, was gewisse Kreise ein Jahrhundert zuvor als ketzerisch betrachteten.75

      Auch sind diejenigen Gruppen, die am Ende des 2. und am Ende des 1. Jh.s Ketzerhüte verteilten, in ihrer Theologie nicht automatisch miteinander gleichzusetzen. Wohl aber bedeutet Bauers Fragestellung, die ausgehend vom Ende des 2. Jh.s für die frühe Zeit die Ausdrücke »Ketzerei« und »Rechtgläubigkeit« zunächst rein formal gebraucht, einen fruchtbaren Gesichtspunkt, um der Vielfalt von »Christentümern« in den ersten beiden Jahrhunderten und ihrer Kämpfe untereinander gewahr zu werden. »Rechtgläubigkeit« bezeichnet dann, für die frühe Zeit gebraucht, nur den Anspruch, den rechten Glauben zu besitzen, der ihn anderen, die davon abweichen, abspricht und sie sogleich der Ketzerei bezichtigt. Ferner ist offenbar in manchen Gebieten das, was später als ketzerisch galt, der »Rechtgläubigkeit« vorangegangen.

      Diese Erkenntnis Bauers bewährt sich besonders hinsichtlich der ältesten judenchristlichen Gemeinde Jerusalems, deren Nachfahren zu Ketzern erklärt wurden. Sie dürfte aber auch für andere christliche Gruppen zutreffen.

      Schließlich stellt sich im Anschluss an Bauers Werk die Aufgabe, darzustellen, wie sich trotz oder gerade wegen der Pluralität christlicher Gruppen in der Frühzeit später eine »rechtgläubige« katholische Kirche mit festen Formen und Institutionen entwickeln konnte, von der die »Ketzerei« endgültig ausgeschieden wurde. Da jedoch seit der Publikation seines Werkes in der zweiten Auflage (1964) der gesamte Handschriftenfund von Nag Hammadi zugänglich ist76, ferner die sog. ntl. Apokryphen mehr beachtet werden77 und überhaupt das 2. Jh. verstärkt das Interesse der Forschung gefunden hat78, ist eine neue Rekonstruktion frühchristlicher Ursprünge sinnvoll, dies um so mehr, als die Herausbildung dessen, was als Neues Testament bekannt ist, in diesem 2. Jh. erfolgte.79 M. a. W., in dieser Zeit – nicht schon im 1. Jh. – schälte sich die grund-legende Entscheidung über die Zusammensetzung der heiligen Schrift der katholischen Christen und über ihre »richtige« Auslegung heraus, die einschneidende Konsequenzen für nichtkatholische Gruppen hatte. Pointiert gesagt: In der Zeit von der ersten christlichen Generation bis zum Ende des 2. Jh.s fielen wichtigere Entscheidungen für die gesamte Christenheit als vom Ende des 2. Jh.s bis heute.

       Zum Aufbau des vorliegenden Buches

      Das nun folgende Kapitel beschäftigt sich mit zwei ketzerbestreitenden Werken aus dem Ende des 2. bzw. dem Anfang des 3. Jh.s, den fünf Büchern »Gegen die Häresien« des Bischofs Irenäus von Lyon und der »Prozesseinrede gegen die Häretiker« aus der Feder Tertullians von Karthago. Beide Werke haben wesentlich zur »Widerlegung« der von der katholischen Kirche ausgeschiedenen Ketzereien beigetragen und mit ihrem Geschichtsbild, dass angeblich allseits die Orthodoxie der Ketzerei voranging, christliche Theologie fast 2000 Jahre lang zur Selbsttäuschung verleitet und die kritische Forschung davon abgehalten, die christlichen Ursprünge, so wie sie wirklich waren, zu rekonstruieren. Indem ich die Arbeitsweise dieser beiden einflussreichen Ketzerbestreiter genau untersuche und ihre Grenzen aufzeige, will ich ein Stück des Schleiers lüften, der nach wie vor über den ersten beiden christlichen Jahrhunderten liegt.

      In Kapitel 3 geht es um die Jerusalemer Judenchristen der ersten beiden Jahrhunderte. Die Überschrift lautet: »Wie aus Ketzerbestreitern Ketzer wurden oder: Die Jerusalemer Judenchristen in den ersten beiden Jahrhunderten«. Sie orientiert sich daran, dass der älteste sichtbare Kampf gegen Andersdenkende von den ersten Christen in Jerusalem ausging. Sie waren es, die faktisch den Begriff der Ketzerei in die Kirche gegen Paulus eingeführt haben, während sich dieser durch eine relativ große Offenheit gegenüber andersdenkenden Christen auszeichnete. »Die noch in den Anfängen stehende Verfestigung der Gedankenbildung im Verein mit der apostolischen Weitherzigkeit, die allen alles werden kann, um alle zu gewinnen, lassen ihn eine Duldsamkeit entfalten, die kaum einen Ketzer kennt.«80

      Über die Apostel vor sich schreibt Paulus: »Ob nun ich oder jene, so predigen wir, und so seid ihr zum Glauben gekommen«. (1Kor 15,11).

      Angesichts von Widersachern zeigt er sich versöhnlich und bemerkt:

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