Seidenkinder. Christina Brudereck
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Название: Seidenkinder

Автор: Christina Brudereck

Издательство: Автор

Жанр: Секс и семейная психология

Серия:

isbn: 9783865064417

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СКАЧАТЬ irgendeine Form von Verehrung. Das aber schien den Lehrer geradezu herauszufordern, doch noch weiterzureden, und Jaya hörte in seiner Stimme diese Spur von Aggressivität, so typisch für Gäste aus dem Westen. Einer von ihnen, ein Deutscher, hatte ihm einmal erklärt, dass echte Bescheidenheit sie unglaublich provozierte.

      Das Gespräch konnte nicht fortgesetzt werden, denn in diesem Moment bogen sie in die Karishma-Straße ein. Sofort öffnete sich das Tor zu Haus Nummer sieben und mehrere Kinder sprangen auf die Straße, um das ankommende Auto zu begrüßen. Jaya wusste, sie waren aufgeregt, sie mochten es, Besuch zu haben, das brachte Abwechslung in ihren Tagesablauf, neue Geschichten, erweiterte ihren Horizont, machte das Leben spannend. Die Jungen öffneten die Türen des Autos und halfen den Gästen, auszusteigen, nahmen ihnen die kleinen Taschen und Rucksäcke ab und begleiteten sie mit ihren fröhlichen Grüßen ins Haus. „Uncle! Uncle!“ Überall waren ihre Stimmen, die Kinder wünschten sich Aufmerksamkeit. Sie holten Stühle und platzierten sie im Eingang, bedeuteten den Gästen, sich zu setzen, und brachten innerhalb kürzester Zeit Tassen, frischen Tee und Kekse. Dann begannen sie, den Gästen ihre Bücher und Schulhefte zu zeigen, und die hatten keine andere Wahl, wurden mitgerissen von ihrem Eifer und fanden sich ein paar Minuten später alle mitten in der konzentrierten Stimmung von Kindern, die tatsächlich gerne ihre Hausaufgaben machten.

      Raja war in der Eingangstür stehen geblieben und wartete auf ein Zeichen, wie es weitergehen würde mit ihm. Er beobachtete die anderen Jungen, die ganze Szene. Alles wirkte natürlich und gleichzeitig eingespielt. Er hatte so ein Haus noch nie erlebt. Er konnte nur ahnen, dass es hier bestimmte Spielregeln gab, und er war neugierig, sie kennenzulernen, und fragte sich, ob er sie verstehen und einhalten könnte. Aber weil alle so ausgelassen wirkten, wurde er allmählich ruhiger.

      „Raja!“ Die warme Stimme von Jaya riss ihn aus seinen Gedanken und er ging zu ihm, folgte ihm eine Treppe hinauf in die erste Etage in ein Büro. Jaya bot ihm einen Stuhl an, aber bevor sie anfingen, miteinander zu sprechen, kam einer der Jungen mit einem Tablett mit zwei Bechern, einer Teekanne und einem Teller mit Keksen und in Scheiben geschnittenem Apfel. Er stellte das alles auf dem Tisch ab und reichte Raja dann die Hand. „Ich bin Muthu“, sagte er und schenkte ihm ein breites Lächeln. Raja ergriff die Hand und sagte ebenfalls lächelnd: „Ich bin Raja.“

      Jaya bedankte sich für den Tee und bat Muthu, später, in einer Stunde etwa, wiederzukommen und Raja dann das Haus zu zeigen. Muthu nickte und verließ das Zimmer. Raja sah ihm hinterher und musste plötzlich ganz unerwartet und heftig weinen. Er kämpfte gar nicht erst gegen die Tränen an, denn er merkte, sie überwältigten ihn. Er fragte sich auch nicht, warum er weinte oder ob er hier überhaupt weinen dürfe, er weinte einfach. Die Traurigkeit war auf einmal so groß, gleichzeitig war es hier endlich möglich, sie loszulassen. Auch Jaya fragte sich nicht, warum der Kleine weinte, es war nicht das erste Mal, dass er genau diese Reaktion erlebte. Er ließ ihn eine Weile für sich, reichte ihm dann die Pappbox mit den Papiertüchern hinüber und berührte ihn dabei kurz am Arm. Raja spürte, dass alles in Ordnung war, putzte sich die Nase und sah Jaya an. Der sagte mit ruhiger Stimme: „Weinen ist nicht schlimm, ist auch nicht peinlich, weinen ist manchmal einfach angemessen.“ Raja nickte, er verstand und er wusste sich verstanden.

      Die beiden begannen, sich zu unterhalten. Diesmal aber folgten sie nicht mehr dem Frage-Antwort-Schema wie bei ihrer Unterhaltung im Krankenhaus, sondern Raja erzählte seine Geschichte. Jaya fragte sich wieder, wie viele solcher Gespräche er jetzt im Laufe der Zeit wohl schon geführt hatte? Damals bei der Kindernothilfe hatte er zunächst zugehört, wenn sein Lehrer, sein Mentor Lüder Lürs, mit den Kindern sprach. Er hatte sehr genau beobachtet, sich einiges von ihm abgeschaut und dann gemerkt, dass er selbst eine gute Art hatte, mit den Kindern umzugehen. Ja, es waren viele Kinder, aber von Routine konnte man nicht sprechen, weil sich die Geschichten zwar ähnelten, aber vor allem der Schmerz, den ein Mensch erlebte, immer seinen eigenen Respekt forderte. So sah er Raja an, ein besonderes Kind mit einer eigenen Geschichte.

      Er erzählte tapfer, Satz für Satz: Seinen Vater hatte er kaum gekannt, er war die meiste Zeit des Jahres in Sri Lanka, arbeitete dort, trank aber auch sehr viel. Wenn er nach Hause kam, wurde das Leben in der kleinen Hütte anstrengender, er hatte nicht gelernt, sich seinen Kindern zuzuwenden, und auch seiner Frau gegenüber kannte er nur einen kommandierenden Ton. Als er den Unfall und den Tod seines Vaters erwähnte, kam er kurz ins Stocken.

      Sie waren von Chennai aus nach Vellore gekommen, denn seine Mutter meinte, hier eine Verwandte, eine ältere Schwester, zu finden. Aber sie konnten diese Frau nicht finden. Als Raja erzählte, dass nur wenige Wochen nach dem Tod seines Vaters auch seine Mutter gestorben war, musste er wieder weinen, berichtete dann aber weiter von den näheren Umständen. Seine Mutter war seit dem Tod des Vaters nicht mehr dieselbe wie vorher, sie war verzweifelt, schlief kaum. Zunächst hatte sie ihre Hoffnung auf ihre Schwester gesetzt und hatte sich mit ihren drei Kindern auf den Weg nach Vellore gemacht, über hundert Kilometer zu Fuß. Als sie hier ankamen und sie sich hatte eingestehen müssen, dass sie seine Tante nicht finden würden und nicht wussten, wohin, war sie irgendwie ganz komisch geworden, wie verrückt, und dann ganz plötzlich schwer krank. Sie hatte sich vor Schmerzen gewunden, irgendwelche Fremden hatten sie ins Krankenhaus gebracht, ins CMC, und man hatte sich um sie gekümmert, aber nichts mehr für sie tun können. Drei Tage später war sie tot.

      Da war er auf dem Gelände geblieben, sein älterer Bruder aber war schon Tage vorher weggegangen und hatte den Tod der Mutter nicht miterlebt, er wusste nicht, wo er jetzt war. Seine jüngere Schwester war bei seiner Mutter geblieben, weil sie noch so jung war, er nahm an, dass sich die Schwestern um sie gekümmert hatten und sie vielleicht in einem Kinderheim untergebracht worden war, auch sie hatte er nicht wiedergesehen, machte sich um sie aber nicht so große Sorgen. Das alles war jetzt schon über zwei Jahre her. Als er Muthu gerade hatte weggehen sehen, hatte er sich an seinen Bruder erinnert gefühlt und merkte, wie sehr er sich danach sehnte, Freunde zu haben, Geschwister, eine Familie, ein Zuhause.

      Jaya ließ ihn in aller Ruhe erzählen, fragte zwischendurch ein paar Mal genauer nach, auch um zu wissen, wie Raja generell mit Erinnerungen umging, wie viel er verdrängt hatte, welche Erklärungen er für sich gefunden hatte. Dann brachte er seinerseits auch seine eigene Geschichte mit in das Gespräch ein, erzählte ebenfalls vom Tod seines Vaters.

      Irgendwann kamen sie an den Punkt, wo Jaya ihm von der Idee, der Gründung und dem Bau des Kinderheims erzählte und wie ihr Zusammenleben hier organisiert war. Jetzt stellte Raja ein paar Fragen und Jaya merkte, dass er einen sehr aufgeweckten Jungen vor sich sitzen hatte. Er war zwar noch nie gefördert worden, aber sobald man einmal etwas Zeit in ihn investieren würde, er lesen lernen würde, genug zu essen bekam und sich sicher und angenommen fühlen konnte, würde er schnell große Fortschritte machen. Jaya erklärte ihm ein paar organisatorische Einzelheiten. Dass er, wenn Raja sich entscheiden würde, zu bleiben, morgen mit ihm zur Schule gehen würde, um ein paar Tests mit ihm zu machen. Dann würde Raja, je nachdem wie das Ergebnis dieser Tests ausfiel, für ein paar Wochen zusätzlichen Unterricht bekommen, Unterstützung bei seinen Hausaufgaben, und einer der älteren Jungen, vielleicht Muthu - bei dem Gedanken strahlte Raja über das ganze Gesicht - würde ihm helfen, den Alltag im Kinderheim zu verstehen und mit den anderen gemeinsam einige Aufgaben zu erledigen, Wäsche zu waschen, den Tisch zu decken, zu fegen, zu spülen, den Rasen zu schneiden, Tee zu kochen.

      Was man außerdem erledigen müsste, wäre, ihn untersuchen zu lassen, um sicherzugehen, dass er gesund war, oder sich andernfalls um eine etwaige Krankheit zu kümmern. Raja schaute angespannt, fast ein bisschen ängstlich, aber als Jaya sagte: „Eine Ärztin aus dem CMC, Doktor Ranjini, du hast sie heute gesehen, wird das übernehmen“, entspannte er sich wieder.

      Jaya stockte für einen Moment und sagte: „Du bist klein für dein Alter. Das kann daran liegen, dass du nicht viel zu essen hattest, aber bist du dir wirklich sicher, dass du schon neun Jahre alt bist?“ Raja nickte. Es war sich sicher. Und noch sicherer war er sich, dass er gerne größer wäre.

      Jaya СКАЧАТЬ