Название: Die Geschichte der Zukunft
Автор: Erik Händeler
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783865064356
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Doch die bisher erreichte Aufmerksamkeit bewegt noch nicht die Politik: Informationsgesellschaft heißt nicht etwa, dass Gedanken schneller als früher verbreitet werden. Sondern dass es im Gegenteil immer mühsamer wird, in dieser gigantischen Flut ewig wiedergekäuter veralteter Ideen den besseren Argumenten Gehör zu verschaffen. Zwar haben viele die Theorie der langen Konjunkturzyklen aufgegriffen, dann aber nur fragmentarisch als Steinbruch für ihre persönlichen Zwecke. Nach Hunderten Presseartikeln und Vorträgen sehe ich noch nicht, dass die politische Diskussion darauf eingeht. Dabei haben wir jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Die vergangenen Bundestagswahlkämpfe drehten sich immer noch lediglich darum, ob Steuern erhöht oder gesenkt werden sollten, ob die Regierung Schulden machen solle oder nicht. Dabei geht es – jenseits der üblichen angebots- oder nachfrageorientierten Konzepte – in Wirklichkeit um eine ganz andere Qualität von Wirtschafts-, Bildungs-, Gesundheits-, ja Gesellschaftspolitik.
Denn das ist das Besondere an der Kondratiefftheorie: Wirtschaft ist nicht nur ein ökonomischer, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang.10 Wenn eine grundlegende Erfindung die Wirtschaft über viele Jahre hinweg antreibt, dann berührt sie alle Bereiche des Lebens. Denn es gibt neue Spielregeln und Erfolgsmuster dafür, wie man Wohlstand schafft; die neue grundlegende Erfindung verändert die Art, wie sich eine Gesellschaft organisiert – schließlich wollen die Menschen die neue Basisinnovation optimal nutzen. Dazu gehören eine neue Infrastruktur, neue Bildungsinhalte, neue Schwerpunkte in Forschung und Entwicklung, neue Führungs- und Organisationskonzepte in den Unternehmen. In der Vergangenheit war das immer so: Jene Volkswirtschaften, die sich auf die neuen Spielregeln und Erfolgsmuster am besten einstellten, konnten mit ihrer technischen Spitzenposition in den neuen Wachstumsbranchen genug Arbeitsplätze schaffen, gute Sozialleistungen anbieten und große Armeen finanzieren. Die Engländer sind also im 19. Jahrhundert nicht deswegen reich und mächtig, weil die Zinsen niedrig, Löhne, Staatsausgaben oder Geldmenge hoch oder niedrig sind (so die zweitrangigen, wenn nicht sogar irrelevanten Themen der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte, siehe Kapitel zur Wirtschaftspolitik, S. 182), sondern weil sie zuerst mit der Dampfmaschine, dann mit der Eisenbahn eben viel produktiver sind als jene Volkswirtschaften, die das Tuch noch per Hand weben und sich mit einem Eselskarren über morastige Feldwege quälen.
Weil Großbritannien nach 1890 an den Erfolgsmustern von Kohle und Dampf festhält, sich nicht an die neuen Anforderungen des dritten Kondratieffs anpasst (elektrischer Strom löst Boom des Stahls und der Chemie aus) und sich ab dem Zweiten Weltkrieg nicht schnell genug auf den vierten Kondratieff einstellt (Petrochemie, Auto), wird es von den USA und Deutschland überholt (siehe Geschichtskapitel, S. 29). Bis zum Ölschock 1973 wächst die Wirtschaft mit allem, was mit billiger Erdölenergie zu tun hat – durch das Auto samt Infrastruktur von der Fahrschule bis hin zur Autobahnraststätte. Auch die Sowjetunion ist damals dank ihrer riesigen Energiereserven in der Lage, Großmacht zu sein – und zerfällt, als Macht von Faktoren abhängig wird, die sie mit ihren starren Strukturen nicht bewältigen kann. Nach einer vergleichsweise kurzen Krisenzeit mit Weltuntergangsszenarien (»Grenzen des Wachstums«) trägt die Informationstechnik das Wirtschaftswachstum. Vor allem die USA und Japan nutzen die neue Basisinnovation. In Europa verhindern zunächst starke Vorbehalte (»Jobkiller Computer«, »Die verkabelte Gesellschaft«) ihre Diffusion. Deswegen fielen die Europäer seit den 70er Jahren in der Produktivität vergleichsweise zurück und verloren im 5. Kondratieff viele Arbeitsplätze. Doch die Karten werden jetzt wieder neu gemischt.
Das macht die Kondratiefftheorie im Gegensatz zu den mechanistisch-monetären Denkmodellen der etablierten Wirtschaftswissenschaft so brisant: Wie stark oder schwach die Wirtschaft eines Landes prosperiert, entscheidet sich demnach an der Frage, wie sehr seine Bewohner die neuen technischen, aber eben auch sozialen, institutionellen und geistigen Erfolgsmuster verwirklichen.11 Das ist eine andere Perspektive als die klassische Vorstellung, Vollbeschäftigung pendele sich über den Marktpreis ein. Und auch der Machbarkeitswahn des Keynesianismus, über makroökonomische Gießkannengrößen wie Geldmenge und Staatsausgaben die Konjunktur global zu steuern, hat sich in der harten Marktwirklichkeit längst aufgelöst. Die tieferen Ursachen der aktuellen Krise können diese Theorien weder erfassen noch lösen (→ Kapitel zur Wirtschaftswissenschaft, S. 182): Sie sind in den realen Produktionsbedingungen zu suchen.
Die Wachstumsraten der Informationstechnik gehen schon seit den 90er Jahren zurück. Der erste Schock dieses auslaufenden Paradigmas ist nach der Jahrtausendwende zu spüren. Die Schränke sind voll, der Bedarf mit langlebigen Konsumgütern gedeckt, die Lebensmittel in den Discountermärkten werden immer noch billiger, und selbst die größte Preissenkungsaktion in der Geschichte des Sommerschlussverkaufs bringt nur bescheidene Verkaufszuwächse. Die Zuversicht sinkt. Der einbrechende Werbemarkt dünnt Zeitungen und Redaktionen aus – und könnte langfristig das journalistische Niveau senken. Zeitungen streichen Beilagen oder werden von ihrem Verlag ganz eingestellt.
Wenige Jahre ist es her, dass man an das Ende aller Konjunkturzyklen und das ewige Wachstum glaubte. Nach der Jahrtausendwende befindet sich zum ersten Mal seit den frühen 70er Jahren die gesamte industrialisierte Welt in einem synchronen Abschwung. Alles legt den Rückwärtsgang ein: Welthandel, Tourismus, Transport. Das Attentat vom 11. September 2001 auf das World Trade Center ist oft nicht der Auslöser, sondern nur eine günstige Gelegenheit für Manager, unangenehme Anpassungen an die gesunkene Nachfrage durchzuziehen.
Dass eine große Rezession bevorstehen könnte, darüber können auch die nach den Einbrüchen wieder gestiegenen Aktienkurse und Immobilienpreise nicht hinwegtäuschen, die durch künstlich niedrige US-Zinsen angefacht wurden: Befeuert vom Aufholprozess der Schwellenländer ist das Durchatmen nur kurz. Weil es am Ende des fünften Kondratieffs nicht mehr genug gibt, wofür es sich lohnt, rentabel zu investieren, geht das Geld in die Spekulation. Die Weltbank warnt im Dezember 2006, der Weltwirtschaft drohe eine Rezession, wenn die Immobilienblase in den USA noch schneller platzt als erwartet und ausländische Investoren auch wegen des großen Handelsbilanzdefizits der USA das Vertrauen in den Dollar verlören. Kurzzeitig erreicht der Ölpreis im Sommer 2008 fast 150 Dollar pro Fass, Aktien bleiben übertrieben hoch, Immobilienpreise klettern immer weiter (weil auch Leute einen Kredit für den Hauskauf bekommen, die ihn sich nicht leisten können) – bis diese Blase ab 2007 leicht abrutscht. Ende 2008 beschleunigt sich der Absturz: Zuerst sinken die Hauspreise, viele Kredite für US-Immobilien sind nicht mehr gedeckt, Banken brechen zusammen, der Konsum geht zurück, der Autoabsatz bricht weltweit ein. Es ist dieselbe Geschichte wie 1929, eben ein Kondratieffabschwung. Mit einem Kredit auf den Wert der Währung und einer unglaublich hohen Neuverschuldung stabilisieren die Industrieländer die Konjunktur, die instabil bleibt, was – was die Fallhöhe nur noch weiter vergrößert. In den guten Jahren waren Schulden kein Problem gewesen. Sie ließen sich ja durch die ständig hinzuwachsenden Ressourcen leicht tragen. Sobald die aber ausblieben, wurden die Schuldzinsen unbezahlbar – das ist der Hintergrund für die Schuldenkrise im südlichen Europa, die es als erstes trifft.
Den eindeutigsten Beweis für die Stagnation lieferte der Kosmetik-Konzern Esteé Lauder beim Platzen der New-Economy-Blase: Die Frauen kaufen Lippenstift, was das Zeug hält. Nach dem September 2001 verkauft der Kosmetikkonzern doppelt so viel Lippenstifte wie sonst. Warum das ein Indikator ist? Wenn Frauen kein Geld für Kleider oder neue Schuhe ausgeben wollen oder können, dann doch wenigstens für einen Lippenstift. Damit haben sie das СКАЧАТЬ