Название: Kein Wissen ohne Glaube
Автор: Werner Kinnebrock
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783532600122
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Ähnlich steigen bei uns aus Erfahrungen resultierende Reize „aus dem Dunkel hervor“. Sie sind die Orientierungspunkte zur Vermessung der Welt, die Haltepunkte, an denen wir unser Weltbild aufhängen. Für die Zecke besteht die Welt allein aus den für sie verstehbaren Reizen. Alles darüber Hinausgehende ist für sie nicht existent. Auch für uns reduziert sich die Welt auf die erfahrbaren Reize, auf die Erfahrungswelt also. Was jenseits davon ist, bleibt ausgeschaltet.
Man stelle sich vor, wir könnten Wärmestrahlen „sehen“, aber kein Licht und keine Akustik wahrnehmen. Oder wir wären in der Lage, wie die Insekten mit Fühlern die Welt zu ergründen. Unsere Bilder wären völlig verschieden von denen, die wir jetzt besitzen – es wäre eine völlig andere Welt. Das zeigt, dass unsere Wahrnehmung im Verhältnis steht zu unserer Fähigkeit, sensorische Signale aufzunehmen und zu verarbeiten.
Mit anderen Worten: Die jeweilige Umwelt wird von uns selbst geschaffen.
Uexküll verglich die jeden Menschen umgebende Umwelt mit einer Seifenblase, die man im Leben mit sich herumträgt. „Sie ist mit uns verbunden und wir mit ihr. Innerhalb dieser Seifenblase geht für jeden von uns die Sonne auf und unter, und diese Sonnen sind sehr verschieden.“ Über den Anblick einer Buche bei einem Waldspaziergang hat er etwa geschrieben:
Dies ist nicht eine Buche, sondern meine Buche, die ich in allen Einzelheiten in meinen Sinnesempfindungen aufgebaut habe. Was ich von ihr sehe, höre oder taste, sind nicht Eigenschaften, die ausschließlich der Buche zu eigen sind, sondern es sind die von mir hinausverlegten Merkmale meiner Sinnesorgane.
Fassen wir zusammen: Es gibt zwei wesentliche Begrenzungen im Erkenntnisprozess. Zum einen unsere raumzeitliche Einengung, die es uns nicht erlaubt, das Korsett raumzeitlichen Denkens zu verlassen – zum anderen unser neuronal bedingtes Denkvermögen, das uns insofern beschränkt, als es uns die Welt nur in bestimmten, vorgegebenen Mustern begreifen lässt.
3. Zeit und Raum oder wie wir eine Realität definieren, die nur relativ ist
Die größte Erfahrung, die wir machen können, ist die des Unfassbaren.
Albert Einstein
Unser Wissen hat Grenzen. Über das, was sich hinter diesen Grenzen verbirgt und was wir nicht verstehen, können wir nur Vermutungen anstellen und aus unserer geistigen und emotionalen Disposition heraus auf das Unbekannte projizieren. Es entstehen Bilder und Vorstellungen, die uns das Unbegreifliche begreifbar machen sollen, und wir ordnen diesen Bildern einen Wahrheitswert zu, der zur Kategorie „Glaube“ gehört.
Leben ohne Glauben?
Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass ein Mensch ganz ohne Glauben zu leben vermag und bei seinen Entscheidungen nur jene Fakten zulässt, die als Wissen gesichert sind. Er wäre damit einem Roboter vergleichbar, dessen Wissen auf Programmen beruht, die ihn steuern, auf Datenbanken oder auf interaktiven Verbindungen zur Außenwelt. Sie alle ermöglichen es dem Roboter, sich zuverlässig, schnell und umfassend in der auf ihn reduzierten Welt zu bewegen und Leistungen zu erbringen, die oft weit über menschliche Fähigkeiten hinausgehen. Fehler sind so gut wie ausgeschlossen.
Was aber geschieht, wenn er aus seinem vertrauten Arbeitsfeld herausfällt oder dieses sich durch nicht vorhersehbare Ereignisse verändert? Wenn zum Beispiel bei einem Roboter, der ein Auto steuert, der Wagen plötzlich in einen Wirbelsturm gerät und von der Straße gefegt wird? Der Androide steht dann vor einer Situation, die in seiner Wissensbank nicht vorgesehen ist, und wird daher vermutlich völlig sinnlose Aktionen durchführen, die alles bloß noch schlimmer machen.
Zwar besitzen Roboter in ihren komplexeren Ausführungen ein Gehirn, das dem des Menschen nachgebildet ist und über neuronale Netze verfügt, die aber genauso deterministisch funktionieren wie eine Maschine und daher den Roboter nicht „retten“, wenn er in massive Schwierigkeiten gerät.
Anders beim Menschen.
Wenn dieser in eine Situation gerät, die er mit seinen Erfahrungen und seinem Wissen nicht mehr meistern kann, wird er versuchen, das Neue und Unbekannte zu verstehen, und so eine Basis für angemessene Reaktionen schaffen. Dazu muss er zwangsläufig dem ihm nicht Bekannten Eigenschaften zuordnen, aus denen sich eine Strategie zur Bewältigung der neuen Situation herleiten lässt. Diese Eigenschaften kann er dann zu Theorien ausbauen, die er als real und absolut betrachtet und an denen er sich orientieren kann.
Und diese neuen Eigenschaften und Theorien sind Glaubensinhalte.
Ohne diese wäre der Mensch nämlich in unbekannten Situationen genauso verloren wie der Roboter im Straßengraben. Glaubensinhalte sind notwendig und essentiell zum Bewältigen des Neuen und damit zum Überleben. In diesem Sinne kann Glaube in schwierigen Situationen Hoffnung, Trost und Zuversicht vermitteln und damit die Basis zur Überwindung von Problemen sein. Bereits Voltaire, der große französische Philosoph des 18. Jahrhunderts, hat gesagt: „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.“
Weil das Nichtwissen in seiner Gesamtheit größer ist als das Wissen, stehen wir oft vor unlösbaren Problemen, wenn wir allein das Wissen zur Problemlösung zulassen. Und so gelangen wir – ob wir es wollen oder nicht – zu Glaubensinhalten.
Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass es für ein sinnvolles Leben unmöglich ist, an nichts zu glauben.
Wer an nichts glaubt, kann sich nämlich in einer ausweglosen Situation nicht befreien. Was einem tief im Menschen verankerten Bestreben zuwiderliefe, für die Beherrschung einer Notlage Strategien zu finden, selbst wenn das Wissen versagt – und deshalb greift er bereitwillig auch auf unbewiesene Glaubensinhalte zu. Glaube und Wissen sind also gleichermaßen wichtig und notwendig für ein gelingendes Leben, wobei der Glaube uns zudem den Sprung in eine neue Sichtweise ermöglicht, die uns erweiterte Perspektiven bietet und uns aus Erstarrung und Isolation befreien kann.
Im Gefängnis unserer Erkenntnis
Nehmen wir an, jemand müsste seit seiner Geburt völlig isoliert in einem fensterlosen Raum leben, dürfte sein Gefängnis nie verlassen und sein einziger Kontakt zur Außenwelt wäre eine Person, die ihm täglich Essen, Kleidung und andere notwendige Dinge bringt. Was passiert, wenn ebendiese Person eines Tages erzählt, sie habe mehrere Stunden im Wald verbracht?
Wald, was ist ein Wald? Der Eingesperrte hat keine Ahnung, fragt danach und erhält zur Antwort: „eine Ansammlung von vielen Bäumen“. Aber was ist ein Baum? Er beginnt nachzudenken, muss sich in seinem Gehirn ein Modell zusammenzimmern, das den Informationen von „Wald“ entspricht, die seine Kontaktperson ihm geliefert hat. Wald besteht aus Bäumen. Ein Baum hat Zweige und Blätter. All diesen Dingen muss der isoliert Lebende ein Bild aus der eigenen Erlebniswelt zuordnen. Bloß wie sieht diese Erlebniswelt aus? Vier Wände, einige Möbel, Tapetenmuster, Teller, Besteck, Kleidung und Dinge, die man essen oder mit denen man sich waschen kann und so weiter. Mehr kennt er nicht, mehr hat er nie zu Gesicht bekommen. Folglich ist „Wald“ für ihn eine Ansammlung von Dingen, die sich zum Beispiel im Tapetenmuster, in Gemüse oder Salaten, die man ihm vorsetzt, widerspiegeln. Er versucht, den Schilderungen, wie ein Wald aussieht, möglichst nahe zu kommen, doch seine imaginierten Bilder sind weit von der Realität entfernt und sehr rudimentär.
Wenngleich zwischen ihnen ein logischer Zusammenhang besteht, der sich aus den Schilderungen der Kontaktperson sowie aus eigener Denkarbeit herleitet, ist es unmöglich, mit dieser begrenzten „Weltanschauung“ die Welt draußen hinreichend zu erklären. СКАЧАТЬ