Название: Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950
Автор: Heinz Scholz
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867775625
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Während des Krieges spürte man an seinen vorsichtig skeptischen Anmerkungen, dass bei ihm keine Siegeszuversicht aufkam. Er war auch kein militärischer Typ, der sich wie andere beim „Schissen“(Schützenfest) des „Reichkriegerbundes“ groß ins Zeug gelegt hätte. Nein, man konnte als Junge sich schon vorstellen: Der ist gegen den Krieg. Jahre später, nach 1945 haben wir darüber offen gesprochen.
Überhaupt unterschied er sich grundsätzlich vom Hilger Bruno, unserem anderen Nachbarn zur Linken. Der wohnte also in der Nr. 82 mit seiner Frau Berta. Beide waren „Hofearbeiter“, sie beim „Dunkel-Pauer“, er als Vorarbeiter beim Großbauern Heinrich im Nachbardorf. Hilger Bruno war ein renommierter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges. In der Wohnstube hing groß und breit sein Porträt als stolzer Unteroffizier, ehrenbekränzt und mit dem Eisernen Kreuz geschmückt. Wenn die Männer in der Runde vom Krieg erzählten und wir Jungen ganz Ohr waren, dann waren die Kampfberichte von Hilger Bruno am spannendsten. Auch beim „Schissen“ trat er, militärisch ausstaffiert, mit stolzer Brust in Erscheinung. Es war für ihn selbstverständlich, dass seine Söhne nach einer Lehre beim Schmied sich freiwillig zu den Soldaten meldeten. Artur wurde Flieger und der zwei Jahre jüngere Kurt Matrose auf einem U-Boot. Sie avancierten beide und kamen zu Beginn des Krieges in schmucken Uniformen auf Urlaub. Bis dann Anfang 1941 die beiden Alten das Schlimmste traf: Zuerst erhielten sie die Nachricht, dass Artur im Luftkampf abgeschossen worden war, und vier Wochen später, dass Kurt in seinem U-Boot von einem Feindeinsatz nicht zurückgekehrt sei. Beide Söhne tot – innerhalb eines Monats! Das warf die Eltern völlig nieder, und für Bruno brach eine ganze Welt zusammen. Er war von nun an wie verwandelt, kritisierte Hitlers Kriegsführung und prophezeite, als im Sommer der Angriff auf Russland erfolgte, nun sei der Krieg nie mehr zu gewinnen. – Wie sehr doch persönliches Getroffensein, unwiederbringlicher Verlust und tiefstes persönliches Leid, die Blickrichtung ändern kann! So lange es immer nur die Anderen trifft, bleibt man in der eingefahrenen Spur.
Über unsere unmittelbaren Nachbarn hinaus hatten wir auch gute Verhältnisse zu anderen Bewohnern des Hinterdorfes. Walters Jungen, Kurt und Georg, waren mit uns gleichaltrig, also nahe Spielgefährten, selbst wenn sie als Bauernjungen viel mehr als wir in die häusliche Wirtschaft eingebunden waren und weniger Freizeit hatten als wir. Auf Walters Kellerberg sind wir Schlitten gefahren und bei Walters trafen wir uns auch manchmal abends, wenn die Eltern alle im Kretscham bei „Hiebnern“ zum Tanz waren. Und Schellenbergs Jungen, obwohl älter, so waren wir ihnen aus unterschiedlichen Gründen auch nahe. Oskar war im Dorf der Hitlerjugendführer; Richard, dem Ältesten, musste ich eine Zeit lang zur Reinholds Elli in Neuland als „Liebesbote“ dienen, und Hans, der Jüngste, mit mir gleichaltrig, konnte in der Schule etwas besser rechnen als ich.
Natürlich kannten wir gut die Bäckerfamilie, wo wir Brot holten. Und der Bäcker Kurt, ein Onkel von Käthe, war für uns Jungen irgendwie eine markante Person. Er ließ uns auch mal in die Backstube, und ich fand es interessant, wie er mit jungen weiblichen Kundinnen turtelte.
Und „die Rungen“, die war für uns insofern interessant, weil wir bei ihr neben Lebensmitteln Schokoladentafeln im Regal liegen sahen, aber höchstens für einen Pfennig ein dickes Sahnebonbon kaufen konnten. Und der Sohn, „Runge Briedl“, ein Jahr älter als ich, der hat mich auch mal heimlich mit in den Kramladen seiner Mutter hineingenommen. Aber er war vorsichtig, wir begnügten uns jeder mit einem Brathering aus der großen Blechdose.
Im Vorderdorf war ich gern bei Tüllners. Sie waren zugezogen und hatten Anfang der dreißiger Jahre einen Bauernhof übernommen, und der Sohn Lothar wurde mein bester Freund. Es war für mich eine schöne Jungenfreundschaft. Er war ruhiger als ich, aber mir sehr zugetan. Auch seine Mutter war mir auffallend freundlich gesinnt und legte Wert auf unsere Freundschaft. Ich fühlte mich wohl bei Tüllners. Der verhältnismäßig große vierflüglige Bauernhof war für mich eine andere Welt. Mit Lothar stöberte ich überall herum, von den Kellern bis hinauf in die Körnerkammern gab es allerhand zu entdecken, und er als Jüngster neben zwei älteren Schwestern brauchte nicht ernsthaft in der Wirtschaft zu helfen. Wenn wir mal Schweinskartoffeln mit dem großen „Dämpfer“ auf dem Hof vorbereiten sollten, war das eher wie eine Freizeitbeschäftigung mit einer leicht zu bedienenden Maschine. Ein ziemlich großer Hühnerhof nach dem Garten zu war oft im Gespräch. Ein Fuchs aus dem nahen Wald ging seiner Raubgier nach. Wir spürten ihn auf und machten uns dran, den Fuchsbau auszugraben, kamen wohl aber zu spät. Gänge und Nest waren leer, wahrscheinlich hatte er sich anderswo einen sicheren Bau eingerichtet. Als Lothar ernsthaft an Diphtherie erkrankt war und in Löwenberg im Quarantänehaus lag, habe ich gebangt und gelitten. Wir hatten später, auch im Krieg, während er an der West- und ich an der Ostfront war, noch brieflichen Kontakt miteinander, und sogar nach dem Krieg hatten wir uns wieder ausfindig gemacht, er in Sachsen und ich in Thüringen. Aber Lothar hat dann die Freundschaft abgebrochen, und ich glaube, ich bin schuld daran. Noch heute leide ich darunter.
Vom Dunkel-Bauer, vom einzigen Gutsbesitzer in unserem Dorf, war bereits die Rede. Er war schon ein alter Mann; der kränklich aussehende Sohn leitete die Gutswirtschaft, und mit zur Familie gehörte die verwitwete Tochter mit ihren drei Kindern Ingrid, Manfred und Reinhard. Die drei gingen nach dem 4. Schuljahr auf das Gymnasium in Löwenberg. Nur mit Manfred, so alt wie ich, blieb ich weiter in Verbindung, und zwar im Jungvolk. – Unweit von Dunkels Hof befindet sich heute noch die Ruine einer alten Wasserburg, umgeben von einer verfallenen Wallanlage mit ehemals breiten Wassergräben. Als Jungen haben wir die Ruinenmauern erstiegen und im Winter auf den zugefrorenen „Burgteichen“ „geschindert“, was heißt, dass wir mit Holzpantoffeln, auf deren Sohlen wir je zwei Kupferdrähte als Gleitschienen befestigt hatten, auf dem Eis geschlittert sind.
Diese Ringwallanlage oder Sumpfburg soll ehemals den slawischen Bewohnern der Bober-Aue als Fliehburg gedient haben. Sie könnte also 800 bis 1000 Jahre alt sein.
Die Tüllners wie auch die anderen Bauern des Dorfes waren nicht ausgesprochen reiche Bauern. Die Weltwirtschaftskrise 1929 – 32 und mit ihr die erlahmende Kaufkraft hatte die Preise ihrer Produkte sinken lassen. Mit der nazistischen Ausrichtung der Wirtschaft auf Rüstung und Kriegsvorbereitung ging es Mitte der dreißiger Jahre auch den Bauern wieder besser. Vor allem die Wehrmacht, der „Arbeitsdienst“ und die Füllung der Staatsreserven verlangten nach mehr Lebensmitteln. Wir Arbeiterjungen im Dorf waren bei den Bauern auch gefragte Arbeitskräfte, besonders in den „Kartoffelferien“. Doch wir zogen vor, uns bei den Gutsbesitzern im benachbarten Rackwitz zu verdingen. Dort bekamen wir 1,20 Mark pro Tag einschließlich Frühstück, Mittagessen und Vesper. Am liebsten arbeiteten Helmut und ich beim Sauer-Pauer. Dort konnten wir auch in der Knechtstube übernachten, bekamen zuzüglich noch das Abendbrot und gewannen nach Feierabend interessante Einblicke in das Hof- und Gesindeleben! Und die Bauersfrau nahm sich unser an, kam abends zu uns an den Tisch, drängte uns zu ordentlichem Waschen und schmierte uns die vom Kartoffellesen rauhen, aufgesprungenen Hände mit Schweineschmalz ein. Es war für uns 12- und 13-Jährige eine harte und auch qualvolle Arbeit. Von 7 Uhr an bis 18 Uhr, abzüglich der Pausen, waren wir auf den Beinen. Das heißt, meist in gebückter Haltung oder auf den Knien rutschend hatten wir hinter der Schleuder auf einem abgemessenen Streifen die Kartoffeln in Körbe zu lesen und diese in den bereitstehenden Kastenwagen zu entleeren. Der Rücken, der Rücken … ich spüre ihn heut noch, wenn ich daran denke. Und wenn wir erlahmten, wurden wir unerbittlich angetrieben! Eine Woche, höchstens 10 Tage, das konnte man gerade noch durchhalten. СКАЧАТЬ