Die Tage von Gezi. Martin Niessen
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Название: Die Tage von Gezi

Автор: Martin Niessen

Издательство: Автор

Жанр: Короткие любовные романы

Серия:

isbn: 9783957442017

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СКАЧАТЬ antwortete erneut auf Türkisch, Marc zuckte wieder mit den Schultern und versuchte, weiterzugehen. Die Spitze eines Schlagstocks, die auf seine Brust tippte, hielt ihn zurück. Verdammt, was war hier los?

      Marc schaute über die Schultern der beiden Polizisten in den Park. Die Demonstranten waren weg, die Zelte auch, nur die Reste von einigen Plakaten lagen zerknüllt auf dem Boden.

      »Closed. Park closed.«

      Ein dritter Polizist, Helm und Gasmaske unter den linken Arm geklemmt, war hinzugetreten und wies Marc mit drei Worten auf Englisch und seinem Schlagstock unmissverständlich den Weg. Marc fügte sich, obwohl die Sache ihn zu interessieren begann, aber man musste ja nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand, vor allem nicht im Urlaub. Oft genug hatte er mit den Sicherheitskräften diverser Länder zu tun gehabt, um zu wissen, dass dies nicht der Moment war, sich auf eine Konfrontation einzulassen. Er zuckte noch einmal mit den Schultern und ging dann in die Richtung, die ihm der Schlagstock wies, aus dem Park heraus und vor dem Divan Hotel nach rechts, die Straße entlang, die am Hotel Intercontinental vorbei hinunter zum Stadion von Beşiktaş und zum Dolmabahçe-Palast führte. Auf einer Treppe am nordöstlichen Ende des Parks saß eine Gruppe junger Männer und Frauen. Sie hockten auf den Stufen unter von der Polizei offensichtlich als Absperrung gespanntem Flatterband.

      Er erkannte das junge Pärchen wieder, das bei den Demonstranten gestanden hatte. Sie schluchzte an seiner Schulter, er, den Arm um ihre Schultern gelegt, schaute aus geröteten Augen ins Nichts. Neben ihnen hockte ein Mann, ebenfalls kaum älter als Anfang zwanzig, presste ein Taschentuch an seine rechte Schläfe, zwischen den Fingern hindurch lief Blut über Wange und Hals und färbte den Kragen seines T-Shirts rot.

      »Was ist passiert?«

      Marc setzte sich zu ihnen.

      »Die haben plötzlich und ohne Vorwarnung mit Tränengas geschossen, uns mit Schlagstöcken aus dem Park geprügelt und die Zelte eingerissen und mitgenommen!«

      Dem jungen Mann standen immer noch Entsetzen und Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Seine Freundin hob den Kopf.

      »Aus dem Nichts haben die auf uns eingeschlagen! Wir haben nichts getan, nur dagestanden!«

      Ihre Stimme war tränenerstickt, aber in ihren Augen blitzte blanke Wut.

      »Sind Sie der Journalist aus England?«

      Die Frage kam von einer jungen, sehr hübschen Frau mit dunkler Lockenmähne, die inmitten der Gruppe hockte. Marc nickte.

      »Hi, ich bin Mine. Sie müssen uns helfen!«

      Kathrin

      Kathrin hatte gerade die Rechnung bestellt, als ihr Mobiltelefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, vibrierte und einen kurzen Piepton von sich gab. Sie saß mit ihrer Freundin Nevra in einem Café am Anleger von Heybeliada, einer der neun Inseln, die vor Istanbul im Marmarameer lagen, noch zur Stadt gehörten und Prinzeninseln hießen. Die Inselgruppe war ein beliebtes Ausflugsziel für stressgeplagte Großstädter. Es gab keinen Autoverkehr, als Fortbewegungsmittel dienten Pferdekutschen und Fahrräder. Dadurch war nicht nur die Luft besser, vor allem in den Sommermonaten, wenn sich die Hitze in den dicht bebauten Straßenschluchten des Festlandes staute, das ganze Leben auf den Inseln war irgendwie entschleunigt. Kathrin liebte es, durch die von Bäumen gesäumten Straßen mit den zumeist liebevoll renovierten Holzhäusern zu schlendern, gerade im April und Mai, wenn die üppigen Bougainvillea-Sträucher blühten und mit ihrem Magenta den Kontrast zwischen den weiß lackierten Holzfassaden und dem stahlblauen Himmel milderten. Außerdem konnte hier schon zu dieser Jahreszeit baden, wer Wassertemperaturen von achtzehn, zwanzig Grad nicht scheute. Wann immer sie vier, fünf Stunden Zeit hatte, fuhr sie raus auf die Inseln. So auch an diesem Morgen. Dienstags hatte sie nur eine frühe Vorlesung. Direkt im Anschluss war sie mit Nevra nach Heybeliada gefahren, die sie besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Die Sommervillen reicher Istanbuler waren auf Büyükada noch größer und prächtiger, dafür lag Heybeliada dem europäischen Teil Istanbuls am nächsten. Die Überfahrt von Kabataş war eine halbe Stunde kürzer, außerdem gab es nur zwanzig Minuten zu Fuß von der Anlegestelle entfernt einen annehmbaren Strand mit ein paar Liegen und Sonnenschirmen und einem kleinen Restaurant mit akzeptablen Preisen. Für einen halbtägigen Ausflug ans Meer, für den man nicht alles selbst mitschleppen wollte, also genau das Richtige.

      Kathrin war Dozentin für Architektur und Städtebau an der altehrwürdigen, 1882 gegründeten Mimar Sinan Universität der Schönen Künste, die im Stadtteil Fındıklı direkt am Bosporus lag. Schon während ihres Studiums an der Fachhochschule Köln hatte sie ein Auslandssemester an der Mimar Sinan verbracht – fünfzehn Jahre war das mittlerweile her – und schließlich über das Thema »Moderner Städtebau – Strategien für historisch gewachsene Großstädte am Beispiel Istanbuls« promoviert. Immer wieder war sie in den Semesterferien nach Istanbul geflogen, um lieb gewonnene Freunde zu besuchen und weil die Stadt sie faszinierte, das rasende Tempo, mit dem sie sich veränderte und sich gleichzeitig treu blieb. Nach dem Studium war sie dann aber erst einmal nach Hamburg gegangen, wo man die Hafencity plante und baute und Bedarf an jungen Architekten war. Ihr gefiel die Stadt, der Job aber erwies sich als Enttäuschung. Europas größtes Städtebauprojekt, wie man das neue Viertel südlich der Speicherstadt an der Elbe mit unhanseatischer Bescheidenheit gerne nannte, entpuppte sich auf den Plänen – und an ein oder anderer Stelle auch schon in der Realität – als lieblos aneinandergereihte Ansammlung ziemlich fantasieloser Wohn- und Geschäftsklötze, die moderne Adaptionen der alten Speicher darstellen sollten, dazwischen schachbrettartige Straßenzüge, die parallel zu den alten Hafenbecken verliefen. Architektonische Freiheiten und stadtplanerische Visionen, das musste sie, schon kurz nachdem sie im Team eines renommierten deutsch-iranischen Architekten angefangen hatte, feststellen, waren längst unter dem Staub deutscher Bürokratie und der Piefigkeit regionaler Politik begraben. Also heuerte sie kurz entschlossen – ein Headhunter hatte eines Abends bei ihr zu Hause angerufen – bei einem internationalen Architekturbüro an, das in Istanbul eine Dependance unterhielt und händeringend Architekten suchte. 2004 war das gewesen, die Stadt mittlerweile eine einzige Baustelle, der Stillstand der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrtausends einem ungeheuren Bauboom gewichen, der Fachleute aus der ganzen Welt aufsog. Wer war da besser geeignet als sie?

      Auch zahlte sich aus, dass sie während des Auslandssemesters bereits einen Türkischkurs absolviert hatte und ihre Sprachkenntnisse in der Zwischenzeit so weit ausgebaut hatte, dass sie trotz ihrer blonden Haare und blauen Augen im Alltag als Türkin durchging. Schon nach drei Jahren, in denen sie an der Planung und Entwicklung diverser Großprojekte mitgearbeitet hatte, wurde ihr eine Gastprofessur an der Mimar Sinan angeboten, die sie annahm. Keine schlechte Karriere für ein Mädchen aus einem niederrheinischen Dorf, nicht weit von der niederländischen Grenze entfernt, dachte sie immer wieder. Nur dass sie dabei ziemlich »geç kaldı« geworden war, »zu lang geblieben«, wie es die Türken nannten, wenn eine Frau mit achtunddreißig Jahren noch unverheiratet und kinderlos war.

      Nun hatten Nevra und sie also Çay, starken türkischen Tee, aus kleinen Gläsern getrunken und Karadut Dondurmalı Kazandibi gegessen, karamellisierten Reispudding mit dem sehr fruchtigen, aber nicht zu süßen Eis aus schwarzen Maulbeeren, während sie auf die Fähre zurück nach Kabataş warteten. Kathrin hatte am späten Nachmittag noch einen Termin an der Uni, die praktischerweise nur eine Station mit der Straßenbahn vom Fähranleger entfernt lag. Sie nahm ihr Telefon vom Tisch und schaute auf das Display, auf dem das Symbol für eine eingegangene Kurznachricht blinkte. Sie drückte auf den Bildschirm, die Nachricht erschien. Sie war von Erol, einem befreundeten Musiker, der wie sie auf der asiatischen Seite wohnte, im zum Stadtteil Üsküdar gehörenden Viertel Kuzguncuk, das sich noch einen gewissen dörflichen Charme erhalten hatte, obwohl es direkt gegenüber von Beşiktaş lag, sehr zentral also, noch vor der ersten Bosporus-Brücke. Kuzguncuk СКАЧАТЬ