Название: Nach Verdun
Автор: Jan Eik
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520038
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Wie auch immer, Galgenberg zog, kaum war er von der Toilette zurück, das gemeinsame Telefon zu sich herüber und begann alle anzurufen, die er sozusagen als private V-Leute auf seiner Liste stehen hatte. Meist waren es kleine Ganoven und zwielichtige Geschäftsmänner, aber auch Frauen aus dem horizontalen Gewerbe, denen er irgendwann einmal geholfen hatte. Meist dadurch, dass er beide Augen zugedrückt hatte. So etwas zahlte sich meistens aus. So auch im Fall Ernst Bergmann. Jemand flüsterte Galgenberg ins Ohr, dass er den mutmaßlichen Handgranatenmörder in einem Lokal in der Nostizstraße 16 gesehen habe.
Sie beschafften sich einen weiteren Vorrat an Dienstfahrscheinen und machten sich auf den Weg nach Kreuzberg.
«Ich werde mal bei von Canow einen Antrag stellen, dass sie für uns einen Straßenbahnwagen als rollendes Büro anmieten», sagte Kappe. «Bei der Zeit, die wir unterwegs sind.»
Galgenberg war begeistert von dieser Idee. «Da stehe ick dann aba selba an da Kurbel. Det war schon imma mein Traum.»
«Meiner aber auch», bekannte Kappe.
Diesmal brauchten sie nicht lange nach der optimalen Verbindung zu suchen, denn mit der Linie 3, dem Großen Ring, kamen sie ohne Mühe vom Alexanderplatz zur Gneisenaustraße. Die Kreuzung Nostizstraße war schnell erreicht.
Galgenberg zeigte nach Süden. «Da hinten ham se unsam Handgranatenmörder schon ’n Denkmal gesetzt.»
«Wieso das?» Auch nach sechs Jahren gemeinsamen Dienstes wollte es Kappe nicht gelingen, sofort zu verstehen, was Galgenberg meinte.
«Na, weil da die Bergmannstraße liegt!»
«Ah ja.»
Kappe hätte das eigentlich wissen müssen, denn ganz in der Nähe hatte er bei den Grenadieren gedient. Dafür wusste er, dass die Nostizstraße eine Hochburg der Roten war, der SPD, aber vor allem derer, die links von ihr standen. Deren Kreise zu stören rief bei ihm ein gehöriges Unbehagen hervor, doch Mörder war Mörder, und er hätte seinen eigenen Bruder, ohne zu zögern, der Justiz übergeben, wenn der einen anderen Menschen mit einer Handgranate getötet hätte.
«Hat es denn Sinn», fragte er Galgenberg, «wenn wir beide ins Lokal gehen und nach Bergmann fragen? Uns sieht doch jeder an, wer wir sind …»
Der Kollege lachte. «Nach Bergmann muss man nicht fragen, den erkennt man auf den ersten Blick: Er sieht wie ein Neandertaler aus.»
So gingen sie hinein, bestellten sich je ein Bier, konnten aber Bergmann nicht entdecken. Von allen Gästen erkannt und durchschaut wurden sie auch nicht, nur der Zapfer, der ihnen ihr Bier an den Tisch brachte, wusste, wer Kappe war. Man kannte sich vom Fußball her.
«Na, Hermann, tust de wat für deine Form, nächsten Sonntag gegen 95, den 1. FC Neukölln?»
«Irrtum, auf dem Exer gegen Alemannia 90. Aber meinste denn, wir kriegen elf Mann zusammen?»
«Ick bringe meine beeden Söhne mit.»
«Die sind doch erst vierzehn», wandte Kappe ein.
«Meinste denn, die in Verdun geben Schulle, Spinne und Murkel det Wochenende frei?»
«Nee, aber …» Kappe sah sich um, ob auch niemand mithörte.
«Und wie ist es mit Ernst Bergmann, kann der nicht …?»
«Nee, der kann nich. Aber frag mal bei dem Liebknecht nach, in dem sein Büro. Oder bei Stiller.»
Sie gaben dem Mann reichlich Trinkgeld, obwohl nicht sicher war, ob von Canow das als Spesen akzeptieren würde, und gingen zum Postamt am Halleschen Tor, um im Telefonbuch nachzusehen, wo das Anwaltsbüro Karl Liebknechts zu finden war.
«Chausseestraße 121.»
Dort, das wusste Kappe von seinem Freund Theodor Trampe, hatte die «Gruppe Internationale» am 1. Januar 1916 ihre erste Reichskonferenz abgehalten. Den Namen hatte sie sich gegeben, weil Rosa Luxemburg ihren alles entscheidenden Satz «Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt» in der Zeitschrift Die Internationale veröffentlicht hatte.
«Chausseestraße», wiederholte Galgenberg. «Det is ja det nächste Ende von hier. Und wat is mit diesem Stiller, is dit der Schuhfritze?»
«Carl Stiller? Wohl nicht.» Kappe überlegte. «Irgendwann hat mir Trampe auch mal was von einem Stiller erzählt, und der hieß …» Er brauchte ein paar Sekunden, bis er es hatte: «Alfred.»
Laut Adressbuch gab es einen Maler namens Alfred Stiller mit einem Atelier am Blücherplatz 2, und da es von der Nostizstraße bis dorthin nur ein Katzensprung war, beschlossen sie, zuerst ihn nach Bergmann zu fragen.
Als sie die Wohnung Alfred Stillers betraten, war auf einen Blick zu erkennen, wo dieser politisch stand, denn überall lagen Entwürfe mit roten Fahnen herum, dazu Plakate und Flugblätter, auf denen dazu aufgerufen wurde, am 1. Mai um acht Uhr abends auf dem Potsdamer Platz zu erscheinen:
Auf zur Maifeier! Am 1. Mai reichen wir über alle Grenzsperren und Schlachtfelder hinweg die Bruderhand dem Volke in Frankreich, in Belgien, in Rußland, in England, in Serbien, in der ganzen Welt! Am 1. Mai rufen wir vieltausendstimmig: Fort mit den ruchlosen Verbrechern des Völkermordes! Nieder mit den verantwortlichen Machern, Hetzern und Nutznießern! Unsere Feinde sind nicht das französische, russische oder englische Volk, das sind deutsche Junker, deutsche Kapitalisten und ihr geschäftsführender Ausschuß: die deutsche Regierung!
Kappe teilte grundsätzlich diese Meinung, wenn er es auch als Beamter mit starker Neigung zur Sozialdemokratie nie so krass formuliert hätte, während Galgenberg die Galle hochkam, wenn er so etwas las. Die Obrigkeit war von Gott, so wie es im Paulus-Brief an die Römer stand und wie er es bei den Konfirmanden gelernt hatte:
Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden ein Urteil über sich empfangen.
Kappe wartete, bis Alfred Stiller, der gerade über eine Lithographie gebeugt stand, zu ihm aufsah. «Entschuldigen Sie bitte … Wir suchen den Genossen Bergmann, Ernst Bergmann.»
«Den könnt ihr lange suchen. Raus hier!»
Zu einer Hausdurchsuchung reichten die Fakten nicht, und so blieb ihnen nichts weiter übrig, als abzuziehen und es bei Karl Liebknecht zu versuchen. Am schnellsten wären sie mit der neuen UBahn, der sogenannten Nord-Süd-Bahn, am Ziel gewesen. Doch die fuhr noch nicht. Zwar hatte man schon am 2. Dezember 1912 mit dem Bau begonnen, aber auch hier waren die Bauarbeiten kurz nach Beginn des Krieges wieder eingestellt worden. Also blieb ihnen wieder nur die langsam durch die Stadt zuckelnde Straßenbahn. Galgenberg als Berliner Urgestein hatte zwar die Linienpläne der vielen konkurrierenden Straßenbahngesellschaften weitgehend im Kopf, brauchte aber bei deren Durcheinander doch einige Zeit, ehe er herausgefunden hatte, wie sie am besten vom Halleschen Tor zur Chausseestraße kamen.
«Ganz einfach: Mit der Hochbahn zum Kottbusser Tor und dort umsteigen in die 28.»
Karl Liebknecht war, nachdem er seine Doktorarbeit an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg mit einem magna cum laude abgeschlossen hatte, nach Berlin gekommen und hatte СКАЧАТЬ