Название: Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an
Автор: Susanne Rüster
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783937881812
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Hungrig sitzt er in der anwendungsfreien Zeit am Fenster seines Zimmers und beobachtet die junge Frau bei ihren häuslichen Verrichtungen. Dabei vertieft er sich auch in die bunten Etikettenaufschriften der Konserven, die ihm verführerisch ins Auge stechen. Nachts träumt er von der Nachbarin. Sie füttert ihn mit deftigem Sauerkraut und Schweinskrustenbraten, und zum Nachtisch steckt sie ihm kleine Kuchen in den Mund. Als er erwacht und zum Frühsport gerufen wird, gerät sein seelisches Gleichgewicht mächtig ins Wanken.
Er richtet das Vergrößerungsglas auf das Haus gegenüber.
Die junge Frau aus seinem Traum sitzt bereits bei einem üppigen Frühstück.
Ein Klopfen an seiner Zimmertür schreckt ihn auf. Eine Schwester meldet den Besuch der Klinikleiterin an. Das verheißt nichts Gutes. Und so ist es dann auch. Frau Doktor Schönstett, eine superschlanke Vierzigerin mit gebirgsbachkalten Augen, die ihn böse anblitzen, tritt ein. „Was ist das?“ Sie weiß natürlich selbst, was sie da auf den Tisch geschleudert hat.
„Keine Ahnung, noch nie gesehen“, antwortet er mit unschuldiger Miene.
Die Ärztin antwortet scharf: „Das ist eine Tafel Schokolade – Vollmilch – Traube – Nuss! Ich habe sie in der Deckelvase im Speisesaal entdeckt“, zischt sie. „Ihnen ist doch bekannt, dass ich Sie ermahnen muss. Der Verzehr von Schokolade ist während der Fastenkur verboten.“
Pfeifer lächelt überlegen. „Diese Vase ist für jedermann frei zugänglich.“
Frau Doktor entgegnet kopfschüttelnd: „Das weiß ich. Dieses Argument benutzen alle, die sich dort ein Nahrungsdepot einrichten.“
Pfeifer ist geschockt, er hat verstanden. „Diese blöde Vase ist eine gemeine Falle. Unschuldige Patienten, die vor Hunger fast umkommen, nicht aus und ein wissen, werden durch sie verführt.“
„Wenn ich Sie daran erinnern darf, sind Sie doch freiwillig hier und können, wenn Sie sich nicht an die Hausordnung halten, die Klinik sofort verlassen, bitte schön.“
Pfeifer knirscht mit den Zähnen. Er hat verloren. Frau Doktor Schönstett mustert ihn noch einige Sekunden und verlässt mit einem resignierten Seufzer das Zimmer.
Vorbei sind nun die Nächte, als er die erbärmlich dünne Brühe-Diät mit Schokolade etwas erträglicher gemacht hatte. Es blieb der quälende Hunger und noch drei Wochen liegen vor ihm. Er braucht jetzt seine ganze Kraft, um nicht wieder in eine depressive Stimmung zu verfallen. Natürlich will er abnehmen, wer will denn schon zwei Zentner wiegen. Aber doch nicht so radikal und unmenschlich.
Alles was ihm nun bleibt, ist die dralle Nachbarin. Pfeifer greift wieder zum Feldstecher und sieht, wie sie an einem Hühnerschenkel kaut und sich genüsslich alle zehn Finger ableckt. Ihm wird ganz flau, doch dann hat er eine Idee.
Das Häuschen der Nachbarin grenzt an den rückwärtigen Teil des Klinikgartens, der mit majestätischen Buchen und einer dichten Haselnusshecke bewachsen ist. In dieser Hecke ist ein Durchgang, den er ja schon für seine Beobachtungen nutzt. Diese Lücke will er noch besser nutzen und einen persönlichen Besuch vorbereiten. Im Park schlendert er, wie in Gedanken versunken, unter den Buchen auf und ab und beobachtet die Fenster der Klinik. Keiner der Patienten scheint sein Spannerhobby zu teilen. Brav gehen wohl alle zu ihren zehrenden Anwendungen. Der erste Frost lässt die Blätter unter seinen Füßen knacken. Uwe Pfeifer schlüpft durch die Hecke und überquert eine kopfsteingepflasterte Straße. Der Wind lässt Plastikbecher und Papiertüten um seine Beine tanzen, dann steht er vor dem Reihenhäuschen. Das Küchenfenster, durch das er so oft gespäht hat, liegt wenige Meter vor ihm. Sein Mut verlässt ihn. Was wird geschehen, wenn die schöne Nachbarin ihn für einen Einbrecher hält?
Der Zufall kommt ihm zu Hilfe. Eine Windböe schleudert einen trockenen Ast mit einem lauten Krachen gegen das Küchenfenster. Die junge Frau kommt erschreckt aus dem Haus gelaufen.
„Nur keine Aufregung“, ruft er und schwingt seine Fülle über den niedrigen Gartenzaun, wobei seine Gelenke bedenklich knirschen. Behände, wie ein Gummiball, hüpft er durch den kleinen Vorgarten und zerrt den Ast in Richtung eines Komposthaufens. Die Frau sieht seinem Treiben zu und versucht ihre Bluse über die Schenkel zu ziehen. Pfeifer lächelt verbindlich, reicht ihr seine Hand und stellt sich vor.
„Pia Vogel“, erwidert sie verwirrt.
„Es wird gleich zu schneien beginnen, ziehen sie sich lieber etwas über.“
Dankbar nimmt sie diesen Rat an, eilt ins Haus. Mit einem dicken Wollpullover und einem Schlabberrock kommt sie zurück und streckt die Hand nach dem Ast aus, den Pfeifer noch immer umklammert.
„Wenn Sie eine Säge haben, mache ich ihn schnell klein.
„Mein Mann wird im Werkzeugkasten vermutlich eine haben. Ich schau mal nach.“
Was, ein Mann? Seit fast einer Woche nimmt er am Leben der Pia Vogel teil und hat noch nie ein männliches Wesen gesehen. Sich auf einen Herrn Vogel einzustellen, damit hat er nicht gerechnet.
Pia Vogel reicht ihm einen Fuchsschwanz.
Pfeifer bückt sich und beginnt den Ast zu zersägen.
„So, das hätten wir“, ruft er, nachdem er ihn in kamingerechte Stücke zerlegt hat. Mühsam richtet er sich wieder auf und unterdrückt ein Stöhnen. Die ungewohnte Anstrengung hat ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben. Er räuspert sich.
„Wenn Sie vielleicht ein Glas Wasser hätten?“
Pia steht betreten neben ihm, weiß nicht so recht, was sie mit dem fremden Helfer anfangen soll. Pfeifer geht aufs Ganze.
„Wissen Sie, eine Tasse Tee wäre schön bei diesem Wetter.
„Ich wollte mir gerade einen Earl Grey aufgießen.“
„Prächtig, dann mache ich ja keine Umstände.“
Kurz darauf sitzt Pfeifer an dem gedeckten Küchentisch, den er so viele Male sehnsüchtig beobachtet hat.
Pia Vogel öffnet eine Keksdose, deren bunten Aufdruck er bereits kennt, und zaubert aus dem Küchenschrank weiß bepuderte Windbeutel.
Uwe Pfeifer fühlt sich so wohl wie lange nicht und ist endlich wieder mit sich und der Welt versöhnt. Er lässt die Köstlichkeiten auf der Zunge zergehen und verdreht vor Wonne die Augen.
„Ganz vorzüglich“, sagt er zu seiner Gastgeberin, die ihn freundlich mustert. Während er sich die zweite Tasse Tee eingießen lässt, ermahnt er sich zu einer Plauderei, denn oft ist er unfähig, ganz zwanglos ein Gespräch zu beginnen. Was soll er sagen oder fragen. Er hofft, dass ihm etwas einfällt, und dann hat er wieder eine Idee. „Einen schönen Garten haben Sie. Man sieht das auch bei diesem Novemberwetter, wenn die Natur vor dem Winter zu schlafen beginnt.“
Und dann, als wäre der letzte Satz von Uwe Pfeifer ein ‚Sesam-öffne-dich‘ gewesen, beginnt Pia Vogel zu reden. Sie spricht von der Arbeit, die ein noch so kleiner Garten macht. Er hätte es ja selbst erlebt, denn Äste würden bei jedem Windstoß von den alten Bäumen geweht. Sie erzählt von Besuchern, die sie am Tag der ‚Offenen Berliner Gärten‘ begrüßen konnte, auch von ihrer Kindheit auf einem Bauernhof bei Lübars, von Nachbarn und von Hunden, die überall hinpinkeln, СКАЧАТЬ