Название: Im Schatten der Hundstage
Автор: Thomas Christen
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783957442840
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Weiß Kirkpatrick doch, dachte er und deutete im Weitergehen mit beiden Zeigefingern auf seine neuen rote Schuhe. Aber die anderen nicht! Dämlich wie sie sind! Geht schon in Ordnung. Eins und zwei und drei und eins, nuschelte er laut vor sich hin und betrat das erstbeste Zimmer an dem er vorbei kam. Eine Weile stand er unschlüssig in der Mitte des Raumes und betrachtete sich im Spiegel an der Wand. Dann zog er lustlos eine der Schubladen auf, durchwühlte den Haufen unterschiedlicher Kämme und Bürsten, nahm eine Bürste heraus und fing an sich die Haare zu kämmen. Als ihm das zu langweilig wurde, warf er die Bürste zurück in die Schublade und drehte den Kaltwasserhahn am Waschbecken vor ihm auf. Der Knopf machte ein kurzes schabendes Geräusch und ließ sich dann nicht mehr bewegen. Scheißladen!, dachte er und ging wieder nach draußen. Dann schaute er ins Patientencafé, blieb aber nur unter der Türe stehen und ließ den Blick durch den menschenleeren Saal streifen. Die Reihe festgeschraubter Hocker vor dem Tresen. Heruntergeregneter Putz, zwei Schiefertafeln links und rechts des Fensters und der halb herausgerissene Sicherungskasten an der Wand. Habt ihr heute Nacht wieder alles leer gesoffen, ihr tumben Alkoholiker. Und wo liegt ihr jetzt schnarchend herum? Er machte einen kleinen Satz auf den Flurläufer in der Mitte des Ganges und hörte auf seine Schritte. Tip – tap – tip – tap. Gute Schuhe, bestätigte er sich. Leise Schuhe. Dann lief er die Stufen hinauf auf die schmale Empore und drückte die doppelflügelige Holztür auf.
Die Reihen der dunkelblau gepolsterten, durchnummerierten Sitze drehten ihm ihre Rücken zu. Er folgte den flachen mit Teppichboden ausgelegten Stufen hinunter und lehnte sich an das Geländer der Empore. Es roch nach uraltem Stoff, Glimmstengelqualm und Schweiß.
Unten im Parkett lagen leere Flaschen und zerdrückte Zigarettenschachteln zwischen den Sitzen. Auf der Bühne war der rote, mit Mustern verzierte flache Brokatvorhang halb heruntergelassen und verdeckte den dahinter liegenden schweren Samtvorhang. Mens sana in corpore sano stand zwischen den Mustern. Blablablablablablabla …, spie er in den Saal, schüttelte seinen Kopf und hämmerte auf die Brüstung. An der Ecke zur Bühne lehnte eine Leiter an der Empore. Er stieg über das Geländer, die Leiter hinab und setzte sich im Parkett in die erste Reihe. Eine Weile saß er schweigend da und fuhr sich unentwegt über sein gebürstetes Haar. Dann stand er auf, ging die schmale Holztreppe hinauf auf die Bühne, zog seinen dreckigen Kittel aus, breitete ihn vor sich aus und stellte demonstrativ und theatralisch einen Fuß darauf.
„Freunde“, rief er und ließ das Wort durch den Saal rollen. „Die Zeit ist nah, dass sich alles ändern wird. Und ich werde es sein, der euch diese Veränderung schenkt. Ich werde es sein, dem ihr ein Freudenfeuer entzünden werdet, den ihr auf den Schild hebt, um ihn durch dieses verfluchte Labyrinth zu tragen. Singend, schreiend, klatschend, johlend, saufend. Ich, Thomas Randolf Kirkpatrick, euer Freund und Beschützer, euer Licht im Dunkeln, euer Halt, wenn ihr stolpert, der Engel an eurer Seite, euer Trost in der Nacht. Der Motor eures Lebens. Die Sonne eurer Tage. Ihr ewigen Wichser.“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „Haltet einfach einmal das Maul. Wer von uns würde denn aufstehen und sagen wollen, dass irgendeiner neben ihm kein Wichser wäre. Also hört mir einfach zu! Die Zeit ist nicht mehr weit. Eine andere Zeit. Ohne schleimigen Fraß. Ohne bunte Pillen. Ohne glasklare Gläser voller glasklarem Gift. Ohne verwanzte Betten. Ohne eiskaltes Wasser. Ohne stinkende Scheißhäuser. Ohne Schreie. Ohne Schmerzen. Ohne Folterzangen. Ohne Albträume, ohne … ohne …“ Er rang nach Worten, wedelte theatralisch mit den Armen und stierte schweigend in die erste Reihe.
„Denn ich – euer Freund und Wegweiser, euer Vater, euer … Gott! Ich wache über euch. Ich habe es immer getan und werde es immer tun. Verzagt nicht. Fürchtet euch nicht. Weinet nicht. Glaubt nur. Glaubt an das, was ich sage. Glaubt an mich.
Ich sage euch was, Higgins, der alte Bücherfresser und Klugscheißer hat mir einmal etwas erzählt. Ich habe nicht mehr die geringste Ahnung was es war, das der alte Arsch mir ins Ohr gequatscht hat. Aber es klang gut. Es klang verdammt gut. Groß. Der Mann hieß Caligula. Higgins hat niemals einen Namen vergessen. In seinem ganzen Leben hat Higgins keinen Namen vergessen. Ihr wisst das doch selber! Also glaubt mir gefälligst, ihr Schwachköpfe, was ich euch hier erzähle. Caligula hieß der Mann. Und er war Kaiser. Verfluchter Kaiser im verfluchten, steinalten Rom.“
Er schlug sich mehrmals mit der flachen Hand auf die Brust und begann zu husten.
„Scheiß drauf, was er gesagt hat. Als Higgins es mir erzählt hat, klang es großartig. Ahh … ich wusste, dass ich es nicht vergessen würde. Niemals auch nur einen Tag: Trefft sie so, dass sie das Sterben fühlen!
Das hat Higgins gesagt. Oder dieser Wichser Caligula. Ist ja auch völlig egal. Wir werden sie treffen … Wir werden sie – nein, nein, wir werden Güte walten lassen, Güte und Nachsicht, denn wir sind aus Fleisch und Blut. Wir werden gütig und nachsichtig sein. Sie werden bereuen müssen, tief bereuen – und wir werden Watson den Schwanz abschneiden. Verdammt noch mal, das werden wir! Jawohl! Denn ich wache über euch. Seit jeher und in alle Ewigkeit.“
Er lehnte am Fenster und starrte in den herandräuenden Morgen. Gewitterwolken hingen über den verwilderten Beeten neben dem riesigen Wasserbehälter. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden durchgeschlafen und fühlte sich noch immer gerädert und hundsmiserabel. Auf der Fensterbank lagen zwei Messer, die er sich aus der Küche mitgenommen hatte. Jetzt wanderte sein Blick auf ihre Spitzen und versuchte zu ergründen, ob sie sich zu ihm hingedreht hatten oder nicht. Aber sie lagen dort so, wie er sie dort abgelegt hatte. Stumm und blank.
Das Geräusch war ein fernes Rattern, ein dumpfes Grollen. Wie das erste kaum wahrnehmbare Heranrollen eines Bebens. Die beiden Planierraupen bogen um die Ecke des Schornsteins, kamen genau den Weg entlang, den der alte Mann immer mit seinem Anhänger herauffuhr. Der Alte wäre abgebogen, um an das entfernte Ende der Gebäudeflucht zu fahren. Um Kisten abzuladen. Geschenke abzugeben.
Die Raupen nahmen den Weg zum Haupteingang und blieben dann einfach stehen, als wüssten sie nicht weiter. Zwei Männer stiegen aus und setzten sich auf die Zähne einer der halbhoch gezogenen Schaufeln.
Er zog die Augenbrauen hoch und rückte einen Schritt vom Fenster weg.
Meine Lieben, meine Freunde – wir haben neue Besucher! Seht ihr sie? Seht ihr, wie sie ihre Stullen fressen, weil sie Angst haben, hier gäbe es nichts Anständiges zwischen die Zähne. Kommt her, ihre verblödeten Penner. Schaut sie euch an. Wenn sie wüssten, was es hier alles zwischen die Zähne gibt! Aber sagt mir, müssen sie Angst haben? Haben diese Männer irgendetwas zu befürchten? Nein, haben sie nicht! Wir werden sie empfangen wie Menschen. Denn das gehört sich so. Wir werden sie begrüßen, ihnen zeigen, dass sie willkommen sind. Ihnen den Tisch decken und die Hände reichen. Ihnen ihre Angst nehmen und sie nach ihren Träumen fragen.
Haben wir es nicht immer so gehalten? Nun kommt schon, ihr dämlichen Schweiger und Nichtsnutze. Watson, du Schwanzlutscher, sieh aus dem Fenster! Ist etwas dabei? Nein – nein – schmink es dir einfach ab! Ich werde dafür sorgen, dass diese neuen Gäste sich bei uns wohlfühlen. Es ist unsere Pflicht! Pflicht! Verdammte Pflicht!
Es war nie anders. Darf nie anders werden.
Denn ich, Thomas Randolf Kirkpatrick – wache über alles. Habt ihr das endlich verstanden, ihr Wichser? …
Anmerkung:
Im Jahr 1928 kaufte der Staat New York auf Long Island über vierhundert Hektar Land, um die größte Nervenheilanstalt der Welt zu bauen. Mitte der fünfziger Jahre lebten in den Pilgrim State СКАЧАТЬ