Название: Stein mit Hörnern
Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Жанр: Исторические приключения
isbn: 9783938305645
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»Ja, ich bin stolz.«
»Phantastisch. Ich möchte Ihre indianische Einbildungskraft haben. Leider fehlt sie mir. Die Lebenserwartungen sind von Erziehung und Milieu abhängig.«
»Da ich in ein verdammt unfruchtbares Stück Prärie eingesperrt und hineingeboren bin, was soll ich überhaupt anderes machen als meine Erwartungen dem anpassen?«
»Wieso eingesperrt?«
»Reservation.«
»Ach, Sie sind Reservationsindianer?«
»Ja.«
»Hätte ich nicht gedacht. Aber Sie können das Gefängnis verlassen, wenn Sie wollen.«
»Ja. Aber wenn meine Erwartungen nun schon angepasst sind?«
»Sie haben recht. Dann bleiben Sie.«
»Wenn ich aber bleibe und dabei andere Erwartungen entwickle?«
»Das können Sie nur, wenn Sie die Umwelt außerhalb der Reservation kennengelernt haben.«
»Oder wenn ich die Geschichte meines Stammes kenne.«
»Sie können sich doch nicht wünschen, wieder primitiv zu leben – ich meine, ohne Bad, ohne elektrisches Licht, ohne Staubsauger.«
»Aber so leben doch die meisten von uns.«
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich.«
»Dann sind Sie glücklich, weil Ihnen Ihr altes Leben erhalten geblieben ist.«
»Sie können es auch so auffassen. Es fehlt nur etwas: die Freiheit.«
»Sie leben im freiesten Lande der Welt.«
»Ja, das merken wir jeden Tag.«
»Wie wundervoll, sich dessen immer wieder bewusst zu sein.«
Joe hatte mit dem Studenten gespielt; das Spiel hatte ihm ein gewisses, wenn auch sarkastisches Vergnügen gemacht. Als sein Bettnachbar entlassen und ein neuer Patient hereingelegt wurde, veränderte sich auf einmal die Atmosphäre.
Es ging nicht nur darum, dass Mr Emilio Stott sich das von Dr. Miller ausdrücklich genehmigte Öffnen der Fenster verbat und nur mit Klimaanlage leben konnte, was Joe verhasst war. Der neue Patient gehörte überhaupt zu der anspruchsvollen und unleidlichen Art von Menschen. Die Schwestern wurden in besonderem Maße durch ihn beschäftigt. Die Assistenzärzte genügten ihm nicht; er wünschte sich täglich die Visite des Chefarztes und setzte sein Verlangen durch. Er wusste zumeist besser Bescheid als die Mitpatienten, und dies in jeder Hinsicht, und er wünschte sich überhaupt stets alles anders, als es war. Darin schien seine Selbstbeschäftigung zu bestehen. Bei einem schweren Unfall war ihm ein Knie zerschmettert worden. Er hatte ein langes Krankenlager vor sich und keine Aussicht darauf, wieder vollständig beweglich zu werden. Doch konnte dies nicht der Grund seiner Verhaltensweise sein, die als Resultat eines langen Trainings wirkte und durch den besonderen Anlass nur zu ihrem eigenen Extrem gesteigert war. An den Besuchstagen, wenn die Ehefrauen, sonstige Verwandte sowie Freunde kamen, versammelte sich ein großer Kreis um ihn, der seine Auffassungen aufmerksam anhörte. Er war regelmäßig anderer Meinung als seine Frau, aber diese, gut angezogen, hübsch geschminkt, mit wechselnder Haarfarbe nach wechselndem Modell frisiert, nahm ihren Mann als Sport und verlor die Laune nicht. Sie war als Briefkastenredakteurin einer Zeitschrift mit Millionenauflage tätig. Als sie den Indianer im Zimmer bemerkte, gab sie ihrer Verwunderung Ausdruck, dass die beliebte Zeitschrift von Indianern keine Leserbriefe erhielt.
»Keine Lust, Englisch zu lesen. Kein Geld, ein Magazin zu kaufen. Das ist es, Mrs Stott.«
»Aber Sie selbst zum Beispiel und Ihre Frau?«
»Sollen wir schreiben: früher Tod, große Armut, zu wenig Arbeit, zu wenig Brunnen?«
»Unvorstellbar.«
Der Ehegatte der Redakteurin hatte von Joe zunächst keine Notiz genommen. Eines Tages jedoch gab er vor zu entdecken, dass neben ihm ein Indianer lag, und er stellte sich darüber überraschter, als die Europäer in dem Augenblick gewesen sein konnten, in dem sich das entdeckte Indien als Amerika entpuppte. Er behauptete von Stund an, dass ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase steige, dass Indianer in schmutzigen Behausungen lebten, sich nicht gerne wüschen und ihnen dies auch dann anhafte, wenn sie von anderen regelmäßig gewaschen würden – kurz …
Joe tat, als ob er nichts gehört habe. Aber er war nicht mehr fähig, sich von sich selbst zu entfernen. Der Zorn trieb ihm den Schweiß aus den Poren.
»Schweiß riecht unangenehm«, bemerkte der Mann, der von Beruf ein großer Manager war, zu seinem Gegenüber.
Joe sagte noch immer nichts.
Wenn Joe, der Indianer, schwieg, so lag es nicht daran, dass er gegenüber einem Weißen schüchtern oder in der englischen Sprache ungewandt gewesen wäre wie manche seiner Stammesgenossen nach drei Generationen des Knechtschaftslebens und der Absperrung; er hatte gelernt, die Zunge als Waffe zu gebrauchen wie einst die großen Redner unter seinen Ahnen. Aber Emilio Stott schien ihm einer Antwort nicht wert; es war unter seiner Manneswürde, hier ein Wort zu verlieren. Zugleich drückte ihn jedoch das Gefühl, dass er nicht Gleich auf Gleich antworten konnte oder wollte.
Der nicht ausgetragene Zwist zwischen den beiden Männern spitzte sich am folgenden Sonntag zu.
Mr Emilio Stott belehrte die ihn umgebende Besucherrunde, dass sich Gangster und andere minderwertige Subjekte tätowieren ließen, bislang sei er jedoch noch nie gezwungen gewesen, sich in derartiger Gesellschaft zu bewegen.
Joe mochte nicht mehr in Schweigen ausweichen, hatte kein Publikum, um indirekt zu erwidern, und keine Lust, Mr Stott anzusprechen; daher wählte er die Form des Selbstgesprächs zum Gegenschlag.
»Es ist erstaunlich, wenn ein amerikanischer Bürger das Symbol des Sternes verunglimpft, das auf unserem Banner überall Achtung verlangt – es fehlt zu den fünfzig Sternen nur der einundfünfzigste, der Stern des Indianers. Er war der erste Stern der Menschen, der über Amerika aufging, aber da er heute die Ordnung stören würde, trage ich ihn separat auf meiner Haut. Weniger erstaunlich ist es bei dem genannten Bürger allerdings, dass er über ein zweites Symbol redet, ohne das geringste davon zu verstehen. Ich habe gesprochen.«
Diesmal tat Mr Emilio, als ob er nichts gehört habe, und tadelte mit gedämpfter Stimme seine Frau, die nicht genug Nachrichten über die Wege und Schliche der Geschäftskonkurrenzen mitgebracht habe.
Am folgenden Tag wurde Emilio Stott in ein anderes Zimmer gelegt, und in dem Krankenraum, in dem Joe lag, durfte das Fenster wieder geöffnet werden. Nach außen hin war die Angelegenheit damit abgeschlossen. Aber Joe, der der bezeigten Verachtung nicht zum ersten Mal in seinem Leben begegnete, war dagegen in seinem Empfinden nicht immun. Er kam über die Beleidigungen nicht hinweg, sein Gedächtnis wiederholte sie und sie wühlten in ihm. Er beobachtete alle seine Mitpatienten, auch das Pflegepersonal noch schärfer als bisher und glaubte sich von ihnen stets mit der Frage angegriffen: »Wie verhält sich der Indianer?« In seiner Muttersprache hießen die Weißen nicht Menschen, sondern Geister. Sie rückten ihm fern als fremde und feindliche Gestalten; er hatte aber keinen Abstand mehr zu seinem eigenen elenden Leben. Er war auf einmal ganz bei sich selbst, СКАЧАТЬ