Die Massenauswanderungen hatten jedoch, neben den starken und nachhaltigen psychisch-emotionalen Effekten auf die Auswandernden selbst, auch weitreichende Auswirkungen auf die zurückgebliebenen Familien und Freundeskreise sowie auf das ethnisch geprägte Sozial- und Kulturleben in den (Ausgangs-) Ländern und Kommunen. Die Wirkungen blieben jedoch nicht nur auf das Herkunftsgebiet beschränkt, sondern sollten erheblichen Einfluss gewinnen auf die Vorstellungswelt der Menschen im Zielland und zum Teil auch erhebliche Rückwirkungen haben auf die Außenbeziehungen dieser Zielländer zu den Herkunftsstaaten. Auf diese Wechselwirkungen und außenpolitischen Aspekte wird im Weiteren ein besonderer Fokus gelegt werden.
Dabei werden nicht die Zielländer der kontinentalen Wanderungsbewegungen, sondern die (überseeischen) Vereinigten Staaten von Amerika und Südamerika als größte deutsche Auswanderergebiete im langen Zeitraum des 19. und 20. Jahrhunderts im Vordergrund stehen. Im Rahmen der hiesigen Betrachtung können die staatlichen Vorstellungen und Maßnahmen in Bezug auf die Auswanderungsbewegung im Herkunftsland nur ausschnittartig erfasst werden, ebenso wie die Perzeptionen und z. T. krisenhaften Rückwirkungen der migrationsbedingten Ereignisse in den Herkunfts- und Aufnahmeländern.
Neben den Briefen von Auswanderern und Berichten von Rückwanderern war es auch die neuartige Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch die große Bevölkerungskreise mit z. T. vertieften außenpolitischen und wirtschaftlichen Nachrichten erreicht wurden. Vor allem die „Amerikabriefe“ und auch ihre mündlich weiter vermittelten Erzählungen fanden große Verbreitung und genossen aufgrund der meist persönlichen Bekanntheit ihrer Absender höchstes Vertrauen. Sie sollten das Nord- und Südamerikabild der Masse der Auswanderungswilligen besonders prägen. Trotz auch kritischer Berichte in den Auswandererbriefen überwog jedoch letztlich ein positives Bild der Neuen Welt. Dieses war bestimmt durch Nachrichten von einem, wenn auch mit mancherlei Risiko verbundenen, im Auswanderungsland kaum vorstellbaren Maß an persönlicher Freiheit in der Lebensgestaltung und der Möglichkeit des erleichterten Besitzerwerbs. Hierdurch ergaben sich oft bedeutsame Impulse und Verläufe des Wanderungsgeschehens, vielfach ausgelöst über transatlantische Migrationsnetzwerke sowie durch Verwandte und Bekannte verknüpfte Kommunikationssysteme in den Herkunftsgemeinschaften. Diese vernetzten europäische Herkunftsräume und überseeische Zielgebiete oft über lange Zeiträume und stellten so einen spezifischen Zusammenhang und Wahrnehmungsraum her.
Das so umrissene Nord- und Südamerikabild und die hohe Glaubwürdigkeit ausstrahlenden Auswandererbriefe waren nicht nur wichtig für den Auswanderungsentschluss, sondern auch für die weitergehende Entscheidung über das Auswanderungsziel. Die Mehrheit der deutschen Auswanderer kam keineswegs orientierungslos und isoliert in einem für sie unbekannten Nord- und Südamerika an. Oft reisten die Auswanderer in Gruppen und trafen am gewählten Siedlungsort in der Regel bereits auf dort ansässige Deutsche.
Vielfach begannen die Auswanderungen somit als Kettenwanderungen, die gewissermaßen ihren eigenen Spuren folgten. Bald schon begründeten sie feste überseeische Wanderungstraditionen, die bestimmte Regionen und sogar Gemeinden mit anderen in der Neuen Welt in Kontakt brachten. Bei Kettenwanderungen hatte dies zudem den Vorteil, dass es für Auswanderungswillige gesicherte Informationen nicht nur über die Lebenswelt im Aufnahmegebiet, sondern auch wichtige Hinweise auf die günstigsten Transportmöglichkeiten und Reiserouten zum Zielort gab; häufig waren dort bereits Anlaufstellen vorhanden und Unterkünfte sowie Arbeitsplätze bereitgestellt. Eine feste Praxis der Wanderungsaktivitäten konnte sogar dazu führen, dass in den Herkunftsregionen die transatlantische Migration auch Jahrzehnte nach ihrem Beginn weiterhin auf hohem Niveau blieb. Dieses Verhaltensmuster wurde selbst dann noch beibehalten, wenn die sozial-ökonomische Lage, die die erste Phase in der Entwicklung einer Wanderungstradition maßgeblich begründet hatte, sich in der Folgezeit völlig verändert hatte. Häufig erfolgte dies somit noch in Perioden, in denen es im Ausgangsraum bereits wieder genügend landwirtschaftliche oder industrielle Erwerbsangebote gab. Letztendlich zeigt dies die weitreichenden und z. T. sich verdichtenden Wechselwirkungen der Prozesse von Abwanderung und Neuansiedlung in längeren Zeiträumen. Die hierbei im Einzelnen oft festzustellenden, vielfältigen Rück- und Sachbezüge und die sie bedingenden Faktoren sind zwar aufschlussreich, können im Rahmen dieser knapp angelegten Darstellung indes nicht vertieft, sondern im jeweiligen Themenbogen meist nur angedeutet werden. Gleichwohl soll ein möglichst differenziertes Bild der nicht immer emotionsfreien Gesamtthematik gezeichnet werden.
Bezüglich der Verwendung der Begriffe „Auswanderung“ und „Emigration“, die häufig synonym verwendet werden, wird darauf hingewiesen, dass hierbei doch ein deutlicher Unterschied zwischen beiden besteht. Die Auswanderung erfolgt freiwillig, während unter Emigration ein unfreiwilliges Verlassen der Heimat verstanden wird. Emigration ist somit das Ergebnis direkter oder indirekter, politischer, sozialer, religiöser oder ökonomischer Verfolgung oder Ächtung. Der Begriff „Migration“ hingegen wird in der Bedeutung einer langfristigen Änderung des Wohnorts verwendet.1
Im Vordergrund dieser Studie stehen daher nicht die (kontinentalen) Binnenwanderungen, die ebenfalls von erheblicher Bedeutung waren, sondern die - in übergreifende historisch-politische Zusammenhänge einzuordnende - deutsche Massenauswanderung im 19. und 20. Jahrhundert, vornehmlich nach Übersee. Die Migrationsströme haben diesem Zeitraum einen prägnanten Stempel aufgedrückt und auch deutlich gemacht, dass die Bewegung von Menschen über Staatsgrenzen und die Begegnung ihrer Kulturen nicht Ausnahme, sondern Regel waren. Insofern sollen weniger die binnenpolitischen und -wirtschaftlichen Auswirkungen dieser internationalen Auswanderungsströme beleuchtet, sondern vielmehr ihre weitergehende Ausstrahlung auf die jeweils bilateralen Beziehungen Deutschlands zu den transkontinentalen Haupteinwanderungsländern skizziert werden.
Auswandern - so wie es heute in Deutschland nahezu problemlos möglich ist - war in früheren Zeiten nicht per se eine unbeschränkte Option, noch bestand ein rechtlicher Anspruch hierauf. Insoweit lässt sich seit dem Spätmittelalter eine bestimmte Entwicklungsgeschichte zu mehr Liberalität der Migration in deutschen Ländern nachverfolgen. Dass ein Land seine Bewohner oft nicht freiwillig fortziehen ließ und die Auswanderung zuweilen stark behinderte oder nahezu unmöglich machte, ist aus der jeweiligen Sozialstruktur, dem wirtschaftlichen Verlust von Arbeitskraft sowie Kapital und bei Männern auch des „soldatischen Werts“ seiner Bewohner nachvollziehbar. Der Wegzug eines produktiven Bevölkerungsteils bedeutete offenkundig und häufig einen „Aderlass“ für die jeweiligen Gebiete. So versuchten die Behörden nicht selten und auf vielerlei Weise, den (Werbe-) Einflüssen von außen entgegenzuwirken, die starke Anreize für die Auswanderung bildeten.2
Den frühen und verschiedenen Auswandererwellen seit dem 18. Jahrhundert kann hier weder zeitlich noch räumlich vertieft nachgegangen werden. Im Zentrum der Studie stehen die großen deutschen Auswandererströme nach Nord- und Südamerika sowie eingeschränkt nach Russland, insbesondere während des 19. Jahrhunderts. Bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts СКАЧАТЬ