Die Wiedergewinnung des Heilens. Volker Fintelmann
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Название: Die Wiedergewinnung des Heilens

Автор: Volker Fintelmann

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная психология

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isbn: 9783957791382

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СКАЧАТЬ überprüft werden muss und ihm nicht einfach übergestülpt werden darf. Hier liegt die Einschränkung einer Evidenz-basierten Medizin, die sich als sogenannter Goldstandard der erkennenden Medizin weit von der Wirklichkeit Mensch entfernt hat, sich jedoch als dogmatisch geprägte Haltung wie in einer geschlossenen Burg gegen jede Öffnung verteidigt. Der englische Arzt David Sackett, der diesen Begriff bildete, wusste das und stellte der äußeren Evidenz eine innere gegenüber. Sie zusammen bildeten für ihn erst eine Wirklichkeit ab.11

      Der zukünftige Arzt muss sich also in zweierlei Richtung neu ausrichten, um den Leib und seinen Anteil an der Ganzheit Mensch wirklich anschauend zu erfassen. Er muss eine Physiologie als Ausdruck des gesunden Menschen erarbeiten und so in sich zur Anschauung bringen, dass er die Veränderung zur Krankheit als Abweichung oder Vereinseitigung erfasst und im Durchschauen dieser krankhaften Vorgänge sogleich entdeckt, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um wieder geordnete bzw. gesunde Verhältnisse herzustellen. Und er muss sich zugleich in seiner ethisch-moralischen Tätigkeit schulen, um Diener seiner Berufung sein zu können.

      Beides soll nur kurz erläutert werden. Wieder wird dabei das Verständnis einer hier gemeinten christlichen Medizin zugrundegelegt und die eigene Erfahrung dieses Weges miteinbezogen.

      Um seinen diagnostischen und therapeutischen Blick für den Menschen zu schulen, muss der Arzt sein Erkennen methodisch erweitern. Er kann nicht bei dem stehenbleiben, was ihn die universitäre Medizin lehrt. Deren Methode ist eine analytisch-beweisende, die misst, zählt und wägt, die Objektivierbarkeit anstrebt und alles Subjektive ausschließen will. Dabei bemerkt sie nicht, wie sehr sie den Menschen zu einem Objekt macht. Und sie nimmt ihn immer weniger direkt mit den menschlich zur Verfügung stehenden Sinnesorganen wahr, sondern delegiert das Wahrnehmen an Apparate, deren Mitteilungen sie als Ergebnisse registriert und vor allem interpretiert. Womit die scheinbar reine Objektivität oft schon verlassen wird und sich die Subjektivität des Interpretierenden einmischt. Es gibt viele Untersuchungen, wonach ein objektiver Befund von verschiedenen Ärzten unterschiedlich bewertet wird. Auch scheint die jeweilige Befindlichkeit und Gestimmtheit des Beurteilenden die Interpretation der Ergebnisse zu beeinflussen. In meinem Spezialgebiet etwa, der Gastroenterologie, kamen verschiedene Spezialisten bei der Beurteilung eines gastroenterologischen Befundes am gleichen Patienten nur zu einer Übereinstimmung von maximal 80 Prozent, oft lag die Übereinstimmung aber niedriger. Auch das durchaus objektiv gemessene und aufgezeichnete Elektrokardiogramm (EKG) kann bis heute nicht rein maschinell bewertet werden, stets ist es der Arzt, der das Ergebnis interpretiert. Dennoch sind diese diagnostischen Maßnahmen nicht falsch oder gar überflüssig, doch sind sie einseitig und unvollständig zum Verständnis eines konkreten Menschen.

      Einen ergänzenden Schritt habe ich die anschauend-vergleichende Methode genannt. Sie erfasst vor allem alle Lebensvorgänge und die mit ihnen verbundene Funktionalität. Ein einfaches Beispiel hierfür sei der Unterschied des einmalig bestimmten Nüchtern-Blutzuckers im Verhältnis zum Blutzucker-Tagesprofil. Noch aussagekräftiger jedoch ist ein Glukose-Belastungs-Test. Ähnlich sehe ich das Verhältnis vom Einzelwert des Kreatinins zur Kreatinin-Clearance. Die noch außerhalb des Menschen messbaren Vergleiche müssen jedoch gesteigert werden zu einer unmittelbaren Anschauung des anderen Menschen. Früher nannte man das auch den klinischen Blick, und es gab Lehrvisiten oder auch Atlanten, die einen lehrten, die Veränderungen in der unmittelbaren Anschauung des erkrankten Menschen gegenüber dem gesunden aufzufassen. Ich will hier nicht in Einzelheiten gehen, doch ist es für mich eindeutig, dass der geschulte Arzt Wesentliches am Patienten exakter wahrnimmt als jeder Apparat. Das war im Übrigen vor 50 Jahren auch gemeinsame Überzeugung erfahrener Ärzte. Nach Einführung der Ultraschalldiagnostik in der Gastroenterologie fragte ich den damals mit dieser Methode erfahrenen Prof. Rettenmaier von der Universität Erlangen, wie hoch er denn selber den Anteil der Aussagekraft seiner Befundung in der eigenen klinischen Erfahrung sähe? Er lächelte und antwortete: „Mehr als 90 Prozent“!

      Wir bleiben der naturwissenschaftlichen Methode treu, sinnlich Erfahrbares über die geschulte Beobachtung wahrzunehmen. Doch macht das so Wahrgenommene etwas mit mir als Wahrnehmenden, das über die einfache Registrierung oder Interpretation hinausgeht. Ich bemerke an mir, wie in mir Gefühle, z.B. der Empathie, des Mitfühlens oder auch des Mitleids geweckt werden, und damit unmittelbar verbunden der aufkommende Wille, hier helfend eingreifen zu wollen. Diesen Impuls nannte Steiner den Heilwillen.

      Und ich gehe noch einen methodischen Schritt des Erkennens weiter. Ich trete dem Patienten physiognomisch-beschreibend gegenüber. Hier nun verbleibe ich nicht mehr nur in reiner Sinneswahrnehmung, sondern hier greift meine Intuitionsfähigkeit ein, die mich Wirklichkeiten erkennen lässt, die über das hinausgehen, was meine Augen unmittelbar sehen, meine Ohren hören oder mein Geruchssinn riecht. So wurde mir auch verstehbar, was in den Evangelien angesprochen wird, wenn es heißt „Wer Ohren hat zu hören, der höre“ oder auch „Wer Augen hat zu sehen, der sehe“. Ich kann auch das Bild nehmen, sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen oder in einer Anamnese das vom Patienten Nichtgesagte zu hören. Intuition ist ein vielfach und unterschiedlich gebrauchter Begriff. Für mich wurde Intuition die erlebte Fähigkeit, innerlich etwas wahrzunehmen oder aufzufassen, was äußerlich nicht in Erscheinung tritt. Diese Intuitionsfähigkeit erfasst grundsätzlich Ganzheiten, sie ist nicht aufs Detail gerichtet. Ich kann sie lernen bzw. schulen, vor allem durch sorgfältige Beobachtung und die daraus gewonnene Erfahrung und ständige Wiederholung (Reproduktion) beider. Steiners Untertitel seiner „Philosophie der Freiheit“ wurde mir dafür Leitbild: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“. In der Intuition erlebe ich den Unterschied von Abstraktion und Anschauung, und ich war immer wieder fasziniert, welche Sicherheit mir eine intuitiv gefasste Wahrnehmung oder auch Diagnose gab.

      Ein Beispiel hierfür soll eine charakteristische Krankengeschichte eingefügt werden. Ein gut 60-jähriger Mann wurde auf Intervention seines väterlichen Freundes, der mein Patient war, aus einer anderen Klinik in unser Krankenhaus und die von mir geführte Innere Abteilung verlegt. Er war schwer krank, tendenziell kachektisch (unterernährt), vor allem physisch kraftlos. Alle bisherigen Versuche der körperlichen Erkräftigung vor allem mit Infusionen waren erfolglos geblieben. Wir fanden schnell heraus, dass ein großer Nebennierentumor und zahlreiche Rundherde in beiden Lungen existierten. Was den intuitiven Menschen in mir aber geradezu ansprang, war die unglaubliche Finsternis, die von diesem Menschen abstrahlte. Das war umso auffälliger, als er ein warmherziger, sensibler, für mich sehr liebenswerter Mensch war. Aus meinem Verständnis war diese Ausstrahlung von Finsternis ein unmittelbarer Hinweis auf eine Tuberkulose.12 Nun war der Patient Jurist und Vorstandsmitglied eines Großunternehmens. Ich konsultierte deshalb auch zu meiner Kontrolle einen der besten Hamburger Lungenfachärzte und teilte ihm meine Vermutungsdiagnose mit. Er untersuchte den Patienten gründlich einschließlich Bronchoskopie und Gewebsproben. Er war sicher, dass es sich um einen Nebennierenkrebs mit Lungenmetastasen handelte und schlug eine entsprechende Therapie mit Operation und Zytostatika vor. Er blieb auch bei seiner Diagnose, als sich in den Gewebs proben kein Krebs zeigte, was nach einigen Tagen feststand. Ich hatte mittlerweile mit dem Patienten gesprochen und ihm beide Diagnosen mitgeteilt und auch mein Dilemma gesagt, dass ich intuitiv sicher sei, dass es eine Tuberkulose sei und ich ihm den dafür notwendigen Weg der Therapie führen könnte, der Spezialist allerdings von Krebs ausging. Was von außen geschaut auch viel wahrscheinlicher war, denn Tuberkulose war zu der Zeit bei uns äußerst selten, Krebs dagegen häufig. Der Patient allerdings vertraute mir und meiner Diagnose und wir machten uns auf den therapeutischen Weg. Und die rasch folgende Besserung seines Befindens gab uns recht, mehr noch die nach etwa sechs Wochen folgende Nachricht, dass in einem durch den Lungenfacharzt sicherheitshalber angesetzten Tierversuch tatsächlich Tuberkelbakterien nachgewiesen wurden. Der Patient wurde gesund bis auf eine Einschränkung der Nebennierenfunktion, hier mussten wir in geringer Dosierung Hormone substituieren. Wir konnten die Therapie ganz auf eine Konzeption der anthroposophischen Medizin aufbauen und brauchten dazu keine chemisch-definierten Tuberkulostatika.

      Finsternis und Licht sind Elemente des ersten СКАЧАТЬ