Название: Spieltage
Автор: Benjamin Markovits
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Oktaven
isbn: 9783772544231
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Das Spiel war aus. Fotoapparate blitzten, und am nächsten Tag konnte ich in der Zeitung seinen Gesichtsausdruck sehen. Ein barbarischer Aufschrei, würde ich sagen – außer dass seine Augen, die weit aufgerissen waren, eher besorgt als glücklich wirkten. Ich betrachtete das Foto (es gab noch eines, auf das ich gleich zu sprechen komme) am nächsten Morgen mehrere Minuten lang, während ich mein müdes und so gut wie appetitloses Frühstück einnahm. «Riesenschritte» lautete die Bildunterschrift, mir kam jedoch eine ganz andere in den Sinn, die seine Miene viel besser beschrieb: Stilles Gebrüll. Er imitierte die Stars, die er aus dem Fernsehen kannte, die meisten davon schwarz, hatte allerdings noch nicht gelernt, die Wut oder Freude zu empfinden, die sie angesichts ihrer Fähigkeiten verspürten und im Spiel zum Ausdruck brachten. Karl jubelte, weil man das irgendwie von ihm erwartete.
Die Zeitung hieß Bayrisches Bauernblatt. Auflage: zwanzigtausend. Ich war früh aufgestanden, um mir einen Liter Milch zu kaufen, und hatte sie in dem Laden am Fuß des Hügels mit eingepackt. Die meisten Meldungen drehten sich ums Wetter, die Preise für Viehfutter, das Landwirtschaftsministerium etc. Sie wurde hier in der Stadt gedruckt, mit einer altmodischen Presse, direkt in der Redaktion. Diese befand sich im zweiten Stock eines Bürgerhauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, das gegenüber dem Theater am anderen Flussufer stand. Im Stockwerk darunter war der hiesige Lokalsender angesiedelt, der sich eine Reihe von Mitarbeitern mit der Zeitung teilte. Die beiden Fotos zierten die Titelseite. Nach dem Frühstück schnitt ich das zweite aus, um es nach Hause zu meinen Eltern zu schicken. Sie bewahrten es auf, steckten es in einen Rahmen und gaben es mir wieder, als ich ein paar Jahre später danach fragte. Ich betrachte das Foto gerade.
Mein jüngeres Ich sieht mich an – auf dem billigen, dünnen Papier zu nichts als einem Umriss verblasst. Ein Tropfen Milch, auf irgendjemandes Schuhe gekleckert, hat sich über die Jahre in ein zartes Violett verwandelt. Es ist ein Mannschaftsbild, zweireihig arrangiert. Die vorderen knien: Charlie Gold, Willi Darmstadt (grinsend wie der Schulbub, der er war), Milo Moritz und Herr Henkel. Die größeren Spieler in der hinteren Reihe stehen Arm in Arm; Karl hat seine Hand auf meiner Schulter. In einem Anflug von Vermessenheit liegt meine Handfläche auf Charlies Kopf, auf dem, was von seiner Lockenpracht noch übrig ist. «Spieltage» lautet die Bildunterschrift.
Die Fotoapparate sorgten für Ausgelassenheit, daran erinnere ich mich. Ich meine damit nicht nur das Bild an sich, sondern die Gegenwart der Fotografen. (Die Presse tauchte nie wieder bei einem Training auf.) Sie verwandelten die düstere Halle am Rand einer bayrischen Kleinstadt in einen Ort mit Bedeutung; sie machten uns zu Basketballspielern. Nur ein paar Zeilen Text haben die Rahmung des Fotos überlebt. Herr Henkel, steht da, hat eine Reihe junger Talente ins Team geholt, um den Sprung in die Bundesliga zu schaffen. Er sagt, Charlie Gold, der Star der letzten Saison, sei genau der Richtige, um sie zu Höchstleistungen anzutreiben. Das einzige Fragezeichen ist Hadnots Knie; ob er sich vor Saisonbeginn von seiner Operation erholt. Für den Fall der Fälle wurde ein junger Amerikaner verpflichtet, der ihn ersetzen kann …
5
Die Yoghurts waren eine Abteilung des örtlichen Sportvereins, und bei Weitem nicht die wichtigste. Ein paar der Eishockeyspieler, hieß es, verdienten im sechsstelligen Bereich. Wir dagegen teilten uns die Halle mit einem Dutzend anderer Sportarten und Kurse. Am Mittwochabend etwa fand vor unserem Training Aerobic für Über-Fünfzigjährige statt. Wenn die Glocke bimmelte, ging eine Gruppe grauhaariger Frauen in Gymnastikanzügen vom Feld, um es uns zu überlassen. Oft mussten wir erst noch die Turnmatten aufräumen, bevor wir loslegen konnten.
Herr Henkel hatte große Pläne und war der Überzeugung, sie durch harte Arbeit realisieren zu können. Er wollte zwei Trainingseinheiten pro Tag und bekam sie auch: von zehn bis zwölf am Vormittag und dann abends noch mal von acht bis zehn. Es gab viele Klagen über diese Abendsessions. Man wusste nicht, wann man essen sollte, und wenn wir dann nach Hause kamen, total kaputt und verschwitzt, waren wir meist auch zu aufgedreht zum Schlafen. Außerdem musste ich bis elf warten, bis ich duschen konnte, sonst hätte ich gleich wieder zu schwitzen begonnen. In der Regel schob ich mir danach nur noch einen kleinen Happen rein, meist irgendwas Kaltes, das vom Nachmittag übrig war.
Morgens war es nicht viel anders. So um sieben stopfte ich mir etwas Toast und eine Schüssel Flockenzeug in den Mund und versuchte danach, noch einmal die Augen zuzumachen, bevor ich zur Halle ging. Am merkwürdigsten waren die langen, nutzlosen Nachmittage, die sich von zwölf bis acht erstreckten und nichts anderes zuließen, als dass man Hunger bekam. Ich nahm im ersten Monat fünf Kilo ab. Alles, was ich machen konnte, alles, was ich machen wollte, morgens, mittags oder wenn ich mit ausgedörrter Kehle mitten in der Nacht aufwachte, war trinken.
Andere Clubs trainierten oft nur drei Mal pro Woche. Sie hatten ein paar Vollzeitprofis; der Rest der Spieler organisierte andere Tätigkeiten um die Trainingseinheiten herum. Olaf war es, der mir eines Nachts in meiner Wohnung bei kaltem Brathuhn erzählte, dass Henkel für seine Mannschaft nicht viel hinlegen musste. Für sich selbst dagegen hatte er ein hohes Gehalt heraushandeln können, indem er dem Vereinspräsidenten klarmachte, er werde auch mit mittelmäßigen Spielern Erfolg haben. Olaf sah mich an, als wollte er sagen: Nimm mir das nicht krumm. Erst da verstand ich, was er meinte – ich war einer der Spieler, die billig eingekauft worden waren.
Wir saßen in meiner Küche, die keine Vorhänge hatte. Die dunkle Landschaft draußen ließ die einsame Lampe in den Fensterscheiben erstrahlen. Dicke Pferdebremsen aus den Ställen auf der anderen Straßenseite landeten auf dem Backblech; ab und an verscheuchten wir sie mit der Hand. Olaf war ein Nörgler – das fand ich charmant. Trotz seiner immensen Gemütsruhe; trotz seiner offenbar reichhaltigen körperlichen Vorzüge. Was mir gefiel, war seine Art, ohne viel Nachdruck mit der Welt unzufrieden zu sein. Er fand immer etwas, an dem er herummeckern konnte, ließ sich aber nie davon stressen.
«Ist mir egal, wenn sie knapp bei Kasse sind», sagte er, «aber Henkel sollte nicht damit angeben.» Henkel habe die Besitzerin, eine ältere Dame namens Frau Kolwitz, gefragt, was sie lieber wolle: einen teuren Trainer oder teure Spieler. «Sie antwortet nicht. Er erklärt ihr: ‹Es gibt nur einen Trainer, aber zwölf Spieler. Ich an Ihrer Stelle würde den teuren Trainer einkaufen.›»
«Woher weißt du das?», fragte ich. Es war schon fast Mitternacht, und Olaf hatte sich noch einen Stuhl geholt, um die Füße draufzulegen.
«Weil er es mir erzählt hat! Genau das meine ich ja: Er ist ein Angeber. Er kann einfach nicht anders. Zweimal hat er mir die Story schon erzählt. Mir ist das egal, ist nicht meine Sache, aber wer muss dafür bezahlen? Also unterm Strich? Wir – zweimal täglich, und das im August. In der zweiten Liga des Deutschen Basketballbunds. So was hab ich echt noch nie gehört. Ich sag’s dir, die anderen in der Liga lachen sich kaputt. Die sind jetzt irgendwo am Strand mit ihren Freundinnen: so bereiten sich andere Mannschaften vor. Da muss man Hadnot bewundern. Der macht das clever, verletzt sich immer rechtzeitig zum Saisonende und kann dann den Sommer über pausieren. Henkel ist natürlich sauer deswegen, aber machen kann er letztendlich nichts. Er denkt, dass er dieses Jahr auf ihn verzichten kann, wegen Karl, aber das ist ein Fehler. Karl ist zu jung; ein großes Talent, ja, aber einfach zu jung. Und egal, wie viel wir im August auch rennen, egal wie fit wir werden – wir sind trotzdem nur durchschnittliche, preisgünstige Basketballspieler. Und er ist auch nicht gerade ein Supercoach.»
Olaf СКАЧАТЬ