Die Frauen meines Lebens. Petra Nikolic
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die Frauen meines Lebens - Petra Nikolic страница 3

Название: Die Frauen meines Lebens

Автор: Petra Nikolic

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Lindemanns

isbn: 9783881907439

isbn:

СКАЧАТЬ Das Grauen beginnt im Februar 1945, wenige Monate vor Kriegsende. Die Sudetendeutschen sind plötzlich die Feinde. Der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš hetzt die Menschen gegen sie auf. „Ihr Deutschen seid die Verräter unseres Staates“, rufen sie. Der Hass hat sie blind gemacht. Drei Millionen Sudetendeutsche werden aus der Tschechoslowakei vertrieben.

      Eines Tages kommen Soldaten ins Dorf und stellen Trecks mit Viehwagen zusammen, um die Leute abzutransportieren. Hastig wird alles, was sie tragen können, zusammengepackt. Einige Sudetendeutsche weigern sich oder versuchen, die Soldaten umzustimmen. Ohne Erfolg. Großmutter und Ingrid verlassen Schönhengst voller Angst vor der Zukunft. Ein großer Zug aus Tausenden von Menschen setzt sich in Bewegung. Alle haben nicht mehr als ein kleines Bündel unter dem Arm. Über viele Jahre haben sie friedlich zusammengelebt, jetzt werden sie von den eigenen Nachbarn verstoßen. Sie sehen in die hassverzerrten Gesichter der Tschechoslowaken, die am Straßenrand stehen und den Abzug der Deutschen beobachten.

      So setzt sich der Treck in Richtung Prag in Bewegung, doch niemand kennt das Ziel. Der einst geschlossene Zug zersplittert langsam, alte und kranke Leute bleiben unterwegs sitzen, weil sie nicht mehr weiter können. Viele davon sterben im Straßengraben, entweder an Erschöpfung oder weil sie von der begleitenden tschechoslowakischen Revolutionsgarde niedergeschossen werden. Seit Tagen hat es keine ausreichende Verpflegung mehr gegeben. In den Ortschaften, die sie durchwandern, werden sie überfallen und ihrer letzten Habe beraubt.

      Ein Mann nimmt Ingrid die Puppe weg, er reißt sie ihr einfach aus dem Arm. Sie weint bitterlich. „Weine nicht, du bist doch schon ein großes Schulkind. Du brauchst keine Puppe mehr“, beruhigt Großmutter ihre Tochter. Dann kommt ein anderer Mann und versucht, Großmutter den Mantel vom Körper zu reißen. „Lassen Sie der Frau doch den Mantel. Sehen Sie denn nicht, dass sie schwanger ist“, herrscht ihn eine Frau an, die neben ihr läuft. Der Mann geht ohne den Mantel weg.

      Tagelang sind sie unterwegs, ohne Trinken und Essen. Sie laufen bis zur Erschöpfung. Nur an den Bahnhöfen können sie etwas Wasser trinken, dann geht es weiter. Irgendwann in der Nacht kommen sie in Prag an. Dort wird der zerlumpte Haufen in das Prager Fußballstadion Strahov getrieben, das zum Sammellager umfunktioniert wurde. Es gibt keine Toiletten, nur offene Latrinen mitten im Lager. Keine Waschräume, kein Essen. Jeden Tag sterben Menschen. Die Leichen werden zu hohen Bergen aufgetürmt. Großmutter und Ingrid sehen die Toten, und ihre zerbröselten Gesichter leben in ihnen weiter, erscheinen nachts in ihren Träumen, verlassen sie nie wieder.

      Immer mehr Menschen sterben und werden in Schubkarren weggefahren. Großmutter ahnt, dass der Tod auch bald ihr Schicksal sein wird, wenn sie nichts unternimmt. Mit dem Mut der Verzweiflung trifft Großmutter die lebensrettende Entscheidung: Wir fliehen aus dem Lager.

      „Ich wusste, dass wir sterben würden, wenn wir hier blieben. Es gab keine Waschräume, Krankheiten verbreiteten sich. Es hieß, die Grenzen sind zu, keiner kommt mehr rüber. Aber ich wollte es trotzdem versuchen.“

      Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von mutigen Männern und Frauen organisieren sie die Flucht. Sie besorgen sich heimlich alles Nötige, was sie für die Flucht brauchen. Nachts brechen sie auf. Schon Tage zuvor haben sie ein Loch in den Zaun geschnitten und dann wieder mit Draht geschlossen, so dass es niemand sieht. Ein Mann hat eine Taschenlampe dabei. Ein Rascheln im Unterholz – Ingrid erschrickt. Aber sie läuft weiter. Großmutter hat sie ganz fest an der Hand. „Du brauchst keine Angst zu haben, es wird alles gut werden“, flüstert sie dem Kind zu. Die Stille des Waldes umhüllt sie wie eine weiche Decke. Sie fliehen durch den Wald, bis sie an die Grenze nach Oberbayern kommen. Dort stehen sie wie benommen, keiner wagt etwas zu sagen. „Da schau Ingrid, dort ist Deutschland. Da kann uns niemand mehr holen“, sagt Großmutter.

      Die kleine Gruppe löst sich an der Grenze auf und jeder versucht, alleine durchzukommen. Großmutter findet mit Ingrid Unterschlupf auf einem Bauernhof. Nachdem sie sich ein paar Tage erholt haben und wieder zu Kräften gekommen sind, geht es mit Sonderzügen, die alle Vertriebenen aufsammeln, zurück nach Hause – nach Frankfurt. Als Großmutter in das zerbombte Frankfurt kommt, erkennt sie ihre Stadt nicht wieder. Trümmer, Schutt und Asche haben die Stadt unter sich begraben.

      „Alles war zerstört. Nur der Dom stand noch“, erinnert sich Großmutter.

      Sie kommen zunächst bei einer Tante in Griesheim unter. Dann geht es zurück in die alte Wohnung nach Höchst. Das Haus steht noch, aber die Wand zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer ist eingestürzt. Großmutter kauft sich eine Maurerkelle, sammelt die Steine ein und fängt an, die Wand wieder aufzubauen. Stein für Stein. Mit jedem Stein denkt sie an Großvater und wartet auf ein Lebenszeichen von ihm. Mit jedem Stein schwindet die Hoffnung. Als die Wand fertig ist, weiß sie, dass er nicht mehr zurückkommt. Vermisst.

      Großmutter bleibt allein mit ihren drei Töchtern. Heidi und Karin, die nach Kriegsende auf die Welt kommen, haben ihren Vater nicht mehr gesehen. Sie zieht die Mädchen alleine groß und ist heute noch stolz darauf, dass sie allen drei Töchtern eine gute Ausbildung ermöglicht hat. In den Trümmern der Nachkriegsjahre eine Normalität im Alltag zu schaffen, war für sie die größte Herausforderung. Sie hatte Bombardierung, Vertreibung, Todesmarsch, Flucht und Internierungslager überlebt. Sie würde auch das schaffen.

      „Wir wohnten in der Nähe der Bahngleise. Wenn nachts die Güterzüge über die Gleise schepperten, fuhr Ingrid im Schlaf hoch und schrie. Sie war fast nicht mehr zu beruhigen.“

      Nachdem die Wohnung in Höchst zu klein geworden ist, suchen sie sich eine helle große Wohnung im Stadtteil Zeilsheim. Ingrid hat inzwischen geheiratet und so zieht sie mit ihrem Mann, meinem Vater, gemeinsam in die neue Wohnung von Großmutter.

      Ich trete mit viel Geschrei in ihr Leben. Ich war ein anstrengendes Baby. Tag und Nacht hat sie mich auf den Armen getragen. Wir wohnen alle zusammen: meine Eltern, meine Großmutter und meine Tanten Heidi und Karin. Die Wohnung war riesen-groß: Ich erinnere mich, wie ich mit meinem kleinen Roller durch endlose Flure gefahren bin. Es war praktisch für meine Eltern, dass der Babysitter in der gleichen Wohnung lebte. So konnten sie abends ausgehen, ins Kino oder zum Tanzen, sich mit Freunden treffen, ohne sich Sorgen um ihr Kind zu machen.

      Ich war nie allein. Du warst immer bei mir. Du hast mich getröstet, wenn ich nachts vor Schmerzen nicht schlafen konnte, weil sich wieder ein Zahn durch den Kiefer bohrte. Du hast mich in den Arm genommen, ganz sanft hast du mich in den Schlaf gewiegt und wir sind zusammen mit leichtem Flügelschlag über die Wellen und das brausende Meer geflogen.

      Dann kommt die Vertreibung aus dem Paradies. Meine Eltern suchen sich eine eigene Wohnung und wir ziehen ans andere Ende der Stadt. Zu allem Überfluss bekomme ich noch ein Brüderchen, das alle Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zieht. Nachts liege ich im Bett und die Sehnsucht nach dir, nach deiner Wärme und Geborgenheit bringt mich um den Schlaf.

      Nachdem auch Heidi und Karin verheiratet sind und ihre eigene Familie gegründet haben, fängst du an zu reisen und die Welt zu entdecken. Auf einer Urlaubsreise lernst du einen charmanten Österreicher kennen. Ihr zieht zusammen nach Zell am See. In den Schulferien besuche ich dich oft. Morgens ganz früh schnallen wir die Skier an und sausen los.

      Du unternimmst mit Joschi aufregende Reisen, ihr macht Kreuzfahrten und besucht die schönsten Strände der Welt.

      Mit einem Bein bleibst du in Frankfurt. Du behältst deine kleine, gemütliche Dachwohnung in einem alten Fachwerkhaus in Zeilsheim. Die Wohnung ist winzig und alle Wände sind schief. Um zur Toilette zu kommen, muss man eine halbe Stiege nach unten gehen. Es gibt kein Waschbecken, nur eine kleine Waschschüssel, eine Seife und ein Krug mit frischem Wasser. Immer wenn du wieder in Frankfurt bist, trommelst du die Familie zusammen und wir sitzen alle mit eingezogenen Köpfen in dem winzigen Wohnzimmer.

      In Österreich verbringst du viele glückliche СКАЧАТЬ