Название: Paganini - Der Teufelsgeiger
Автор: Christina Geiselhart
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783708105222
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Papa stand herum wie eine unvollendete Statue Michelangelos. Sein Mund klappte nach unten, die Haare klebten an seinem Kopf, die Augen quollen hervor. War er schon wieder verärgert?
„Stehen Sie nicht so lange untätig herum, Signore. Der Junge ist ein Genie, aber hat noch viel zu lernen. Vor allem in Harmonik.“
Wir blieben einige Monate in Parma. Während ich dreimal wöchentlich Harmonik bei Gasparo Ghiretti studierte und nebenbei dank Maestro Paër das Komponieren lernte, spazierte Vater durch die Stadt, wo er vermutlich seinen üblichen Geschäften nachging: Einkauf, Verkauf, Kartenspiel und Glücksspiel. Rolla hatte uns eine Herberge unweit vom Marktplatz empfohlen. Hier war es still und beim Üben blickte ich auf den Dom. Er inspirierte mich zu manchen Höhenflügen, Arabesken weit unten am Steg, Sprüngen mit dem Bogen, Zupfvarianten. War Vater unterwegs, wagte ich die kühnsten Schritte. Ich überlegte auch, wie ich die unterschiedlichsten Kunstgriffe mit zwei Händen bewerkstelligen konnte. Meine großen Hände und ihre außerordentliche Beweglichkeit erlaubten es mir, mit der linken Hand zu zupfen, sodass ich gleichzeitig den Bogen führen konnte. Wundervoll wie sich mein Daumen bis zur Handfläche biegen ließ. Das alles hörte sich noch ein wenig kläglich an, aber mit viel Übung würde es mir vortrefflich gelingen.
Hin und wieder fiel mir der Bogen aus der Hand. Meine Finger zitterten, mein Körper bebte und meine Zähne klapperten. Dann schwitzte ich und Vater meinte, ich hätte Fieber. Aber ich war nur erschöpft. Sein grimmiges Aussehen milderte sich bei meinem elenden Anblick. Er sagte, ich sehe so gespenstisch aus wie eines der marmornen Ungeheuer auf den steinalten Gemäuern des Marktplatzes. Dann nahm er mich bei der Hand und meinte spöttisch:
„Komm, ich zeig sie dir!“
„Ich will sie nicht sehen!“
„Dann zeig ich dir etwas anderes, aber gehen wir an die Luft.“
Er führte mich eine Weile kreuz und quer durch belebte Straßen bis wir zu einer seltsamen Kirche gelangten. Ihr Dach wurde von Marmorsäulen getragen und wollte man die Kirche betreten, schritt man sozusagen in die Erde hinein. Aber was für ein Publikum erwartete uns dort? In jedem Winkel hockte ein zerlumpter Mann oder eine verschrumpelte Frau, hinter jeder Säule kauerte ein Gespenst, und sobald wir uns näherten, erhoben sie sich und schlurften auf uns zu. Aber sie kamen nicht allein. Jeder schleppte einen Krüppel zum Betteln hinter sich her. Erschreckend sahen sie aus. Menschen mit Wasserköpfen, eitrigen Geschwüren im Gesicht, zahnlos, hinkend, übelriechend. Mir wurde erneut schwindelig. Warum führte mich Vater hierher?
„Lass uns gehen, schnell!“, verlangte ich und zerrte an seinem Mantel.
Wir gingen zurück. Langsam, mit offenen Augen für die heiteren Straßen und tief durchatmend. Vater meinte, ich solle mehr essen und besser atmen, ich sähe ja aus wie ein Nachtschattengewächs.
Bevor wir zum Essen ins Wirtshaus traten, zeigte er mir die Taufkapelle. Dort fühlte ich mich wieder besser. Ich betrachtete die schöne Gemäldesammlung des Gottestempels und beobachtete die bärtigen Künstler, die einige der Werke zu kopieren versuchten.
Wir verbrachten den Winter in Parma. Vater telegrafierte Carlo, er solle sich gut um die Familie kümmern und Mama sagen, dass ich mich gut entwickele, leider aber noch immer dünn wie ein Spaten sei. Carlo telegrafierte zurück, ihm gehe bald Vaters Geld aus, Niccolò aber solle kräftiger essen und weniger üben, denn würde ich verhungern, sei alle Mühe umsonst gewesen. Vater warf das Telegramm wütend auf den Boden.
Ich ging fleißig zu Fernando Paër wegen der Kompositionslehre, denn davon versprach ich mir sehr viel. Und dank Ghiretti fiel mir auf, was für eine außerordentliche Null im Kontrapunkt ich doch war. Ich musste noch tüchtig an mir arbeiten, um vollkommen zu werden. Nur manchmal und auch nur, wenn Vater in der Stadt unterwegs war, legte ich die Geige weg und lehnte am Fenster. Der Marktplatz war wie ausgestorben und hatte ich im Herbst noch Vogelstimmen gehört, so lag jetzt eine gläserne Stille über allem. Selbst der Wind heulte nicht mehr in den Winkeln und Nischen der Häuser. Und diese äußere Stille, die an die unheimlich Ruhe auf dem Land im ersten Morgengrauen denken ließ, wurde in meinem Kopf zu einem Konzert. Ich lauschte in mich hinein und vernahm viele unterschiedliche Melodien. Manche hatten einen kantiblen Charakter, andere wiederum machten Bocksprünge, andere klangen wie verstimmte Geigen. Ich hörte sie ganz klar, spürte ihnen nach, ergriff sie, ließ sie reifen. Reifen, saftig werden, zu einem enormen Klanggebilde wachsen, das meine Brust zerriss. In dem Augenblick stürzte ich auf die Musikhefte und goss die Musik in meinem Inneren aufs Papier. Danach ging es mir sehr gut, dennoch erschrak Vater jedes Mal über mein Aussehen, wenn er zurückkam. Und schnell ging es wieder hinaus ins Freie, egal wie kalt die Luft zum Atmen war. Er zeigte mir den Palazzo della Pilotta, vermutlich weil er glaubte, ich müsse mich auch an Theaterluft gewöhnen. Wo er mich jedoch hinführte, stank die Luft nach Moder und schmeckte sie nach Erde. Feucht, klamm, wie erstarrt, so fühlte es sich an, in diesem verlassenen Theater. Auf den verschimmelten Sitzplätzen lungerten Ratten und die Bretter der Bühne glänzten schmierig. Wie beim letzten Mal, in der unterirdischen Kirche, zog ich ihn am Mantel und zerrte ihn hinaus. Ich fühlte mich einsam, heimatlos und Orte wie diese vertieften die Trauer in meinem Herzen. Dann sehnte ich mich besonders nach meiner Geige. Sobald wir zurück in unserem Zimmer waren und Vater sein Schläfchen hielt, wollte ich ein wenig mit ihr plaudern.
8
Filippo Buonarotti war nach kurzem Frankreich-Aufenthalt, wo er sich Anregungen und geistige Nahrung für den italienischen Aufstand geholt hatte, zurück bei seiner Frau Francesca und seinem Sohn Andrea. Er blieb drei Tage im Haus in Carrara, aß genüsslich die würzige Pasta und trank vom toskanischen Wein. Seine Gedanken hingegen flohen immer wieder zu der neuen Arbeit. Er sollte als Kommissar in der Republik Oneglia fungieren, zögerte jedoch, Francesca von der Notwendigkeit eines Umzugs zu überzeugen. Natürlich steckte hinter seinem Zögern nicht nur die Furcht vor ihrem Gezeter – sie war vernarrt in die Toskana und wollte sie nicht verlassen –, ihm graute auch vor ihrer Reaktion, entdeckte sie den wahren Grund des Umzuges. Deshalb machte er sich zunächst allein auf den Weg. Hätte er in Oneglia erst einmal ein hübsches Häuschen erworben, würde er sie locken und zerstreuen können. An Geldmitteln fehlte es ihm nicht. Seine französischen Gesinnungsgenossen hatten ihn großzügig ausgestattet, verlangten allerdings als Gegenleistung, unter dem Deckmantel des politischen Kommissars in Oneglia ein jakobinisches Hauptquartier zu errichten.
Glücklicherweise erfuhr Francesca davon zunächst nichts. Ihr Zetermaul aber war durch den Hauskauf gestopft und statt lästige Fragen zu stellen, jubilierte sie über den finanziellen Aufstieg ihres Mannes. Der fünfjährige Andrea wiederum hätte gerne Fragen gestellt. Es interessierte ihn, wohin sein Vater ging, wenn er nachts das Haus verließ, er folgte ihm mit den Augen, lauschte auf seine Worte, wenn abends Freunde kamen, mit denen er in einem Zimmer verschwand. Bewundernd sah er an ihm hoch, weil er die Bewunderung und den Respekt der anderen für seinen Vater spürte. Manchmal nahm Buonarotti seine kleine Familie zu Versammlungen mit, aber nur, weil die Mitglieder mit Essen und Getränken versorgt werden mussten, wofür sie Frauen brauchten.
Bei einer dieser Versammlungen – es war im März 1795 – lernte Andrea die vierjährige Carlotta Servetto kennen. Die Kleine war von Anfang an dabei, da Giorgio immer mit Frau und Kind nach Oneglia kam. In Signora Servetto wütete der Kampf um ein unabhängiges Italien mehr als in Giorgio. Sie hasste Kaiser Franz, schimpfte ihn einen Barbaren, unfähig und unwillig, die italienische Kultur und Mentalität zu begreifen oder ihr entgegenzukommen. Ein Haustyrann im Schlafrock und Käppchen, so nannte sie ihn. Als einzige Frau unter den Männern СКАЧАТЬ