Название: Pelé - Warum Fußball?
Автор: Pelé
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783854454533
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Jedoch passierte etwas Eigenartiges in dem Moment, als Uruguay den Ball ins Netz bugsierte. Das Publikum im Maracanã spürte es, und auch wir im weit entfernten Baurú konnten es fühlen. Es war, als würde das ganze Selbstvertrauen und all der Hype sich plötzlich ins Gegenteil verkehren, als würde Luft aus einem Ball entweichen. Wir hatten uns in so luftige Höhen gepusht, dass ein Fall von dort oben nun fatale Folgen haben würde – und ganz plötzlich starrte ganz Brasilien in den Abgrund.
Ich blickte flüchtig rüber zu Dondinho, der sich mit weit aufgerissenen Augen in einen Stuhl fallen ließ.
Im Maracanã hatte es 200.000 Menschen die Sprache verschlagen.
Trainer Costa sagte später, dass die Stille seinen Spielern eine Mordsangst eingejagt habe.
Das kleine Uruguay, dieser aufmüpfige Underdog, hatte Blut geleckt.
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Im Fußball besagt die Größe eines Landes oder der Spieler überhaupt nichts aus. Herz, Begabung und harte Arbeit sind die einzigen Dinge, auf die es ankommt. Meine Güte, ich hätte das besser als jeder andere wissen sollen.
Irgendwie hatten wir vergessen, dass Uruguays fußballerische Tradition mindestens so reich wie unsere eigene war, wenn nicht sogar noch reicher. Auf der ganzen Welt war diese Mannschaft berühmt für ihren „garra charrua“, was so viel bedeutet wie Mumm und Kampfgeist. Außerdem spielten bereits ab dem frühen 20. Jahrhundert Spieler afrikanischer Abstammung auf ihrer Seite – viel früher als bei anderen südamerikanischen Nationen wie etwa Brasilien. Uruguay hatte bereits zwei Goldmedaillen im Fußball bei Olympischen Spielen gewinnen können und darüber hinaus auch schon einen Weltmeistertitel auf der Habenseite. 1930 hatte Uruguay das erste WM-Turnier, welches damals auch in Uruguay ausgespielt wurde, für sich entschieden. Auch da fehlten, so wie bei der Endrunde 1950, einige der wichtigsten Mannschaften. Die Welt steckte tief in der Weltwirtschaftskrise, und viele Mannschaften aus Europa konnten sich die Reise schlicht nicht leisten. Deshalb behaupteten manche Leute, der Sieg Uruguays sei reiner Dusel gewesen. Sie hätten es besser wissen sollen.
Als die uruguayische Mannschaft zum entscheidenden Spiel in Rio anreiste und merkte, dass man sie lediglich als Statisten bei der brasilianischen Krönungszeremonie abtat, machte sie genau das, was man von einem Team mit eigenen Titelambitionen erwarten durfte – sie lehnte sich gegen ihre Rolle auf. Die Spieler waren total heiß und trainierten mit außergewöhnlicher Intensität. Und in genau dieser überschäumenden Rage erkannten die Trainer und Funktionäre dieser Mannschaft ihre große Chance.
Am Morgen des Spiels besorgte Manuel Caballero, der uruguayische Konsul in Rio, zwanzig Exemplare jener Tageszeitung, die Brasilien schon vorzeitig als „Weltmeister“ ausrief. Er brachte sie ins Hotel Paissandu, wo die uruguayische Delegation Quartier bezogen hatte. Als die Mannschaft vor dem Match noch eine Mahlzeit zu sich nahm, legte Caballero den Spielern die Zeitungen auf den Tisch und verkündete: „Mein Beileid, ihr habt schon verloren.“
Die Spieler schrien und stöhnten. Einer von ihnen, der als sehr emotional geltende Eusebio Tejera, stand auf und schlug gegen eine Wand.
„Nein, nein, nein! Sie sind keine Weltmeister!“, rief er. „Wir werden sehen, wer der neue Champion sein wird!“
Einem anderen Bericht zufolge schnappte sich daraufhin der Kapitän der Urus, Obdulio Varela, die Zeitungen und trug sie in die Toilette. Er breitete sie auf dem Boden aus, und alle Spieler urinierten auf die Bilder ihrer brasilianischen Gegner.
Als später an diesem Tag im Maracanã die erste Halbzeit torlos geendet hatte, witterten sie die Sensation. Brasiliens Unantastbarkeit war verflogen. Sogar als wir gleich zu Beginn der zweiten Hälfte in Führung gingen, verstärkte das die uruguayische Wagenburgmentalität nur noch. Obdulio hob den Ball aus dem Netz und schrie eine ganze Minute lang sowohl den Schiedsrichter als auch das Publikum an. Er wollte den Ball gar nicht mehr loslassen. Als er ihn schließlich zurück auf den Rasen legte, damit es weitergehen konnte, wandte er sich an seine Kameraden:
„Wir werden hier gewinnen – oder sie werden uns töten!“
Gut, das war natürlich etwas überspitzt formuliert, doch er war sicher nicht die erste Person an diesem Tag in Brasilien, die sich zu einer Übertreibung hatte hinreißen lassen. Sein Team reagierte mit jenem Offensivdruck, den sich Obdulio erhofft hatte – und so folgte kurz darauf der Ausgleichstreffer. Wenig später war es Alcides Ghiggia, ein herausragender Rechtsaußen, der sich knapp zehn Minuten vor dem Schlusspfiff alleine vor dem gegnerischen Tor wiederfand.
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Die Stimme im Radio informierte uns: „Ghiggia passt den Ball zurück … Julio Pérez spielt den Ball tief auf den Rechtsaußen … Ghiggia läuft auf das Tor zu … er schießt. Tor. Tor für Uruguay! Ghiggia! Uruguays zweiter Treffer. Uruguay geht 2:1 in Führung … 33 Minuten sind in der zweiten Hälfte gespielt.“
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Womöglich spürte ich unsere bevorstehende Niederlage. Vielleicht erschreckte mich die Stille in unserem Wohnzimmer. Oder weil ich nur ein Kind war, verließ ich das Haus, um mit meinen Freunden zu spielen, bevor Uruguay zum zweiten Mal zuschlug. Wir droschen den Ball halbherzig durch die Gegend und feierten unsere eigenen Treffer. Aber wir wussten, dass die Dinge im Haus schlecht standen.
Kurze Zeit später schlurften die Freunde meines Vaters ins Freie. Ihre Gesichter sprachen Bände. Nun wusste ich natürlich, was Sache war. Ich legte den Ball auf den Boden, holte tief Luft und ging zurück ins Haus.
Dondinho stand mit dem Rücken zum Zimmer und starrte aus dem Fenster.
„Papa?“
Er drehte sich um, und Tränen rollten über seine Wangen.
Ich war fassungslos. Ich hatte Papa noch nie weinen gesehen.
„Brasilien hat verloren“, krächzte er, als würde es ihm Mühe bereiten, diese Worte auszusprechen. „Brasilien hat verloren.“
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„Niemals habe ich in meinem Leben Menschen so traurig erlebt wie die Brasilianer nach dieser Niederlage“, erinnerte sich Alcides Ghiggia, der Schütze des Siegtreffers, viele Jahre später. Mit etwas weniger Mitgefühl fügte er hinzu: „Nur drei Menschen vermochten es, das Maracanã zum Schweigen zu bringen – der Papst, Frank Sinatra und ich.“
Als der Schlusspfiff erklang, brachen Tausende Menschen auf den Tribünen in Tränen aus. Gott weiß, wie viele es in ganz Brasilien waren. Die Stimmung war so am Boden, dass sogar die uruguayischen Spieler, die auf Jules Rimet, den Präsidenten der FIFA und Vater der Weltmeisterschaft, warteten, damit er ihnen die wohlverdiente Trophäe überreichen konnte, nur noch in ihre Kabine laufen wollten. „Ich weinte mehr als die Brasilianer“, sagte Schiaffino, der das erste Tor erzielt hatte, „weil ich sehen konnte, wie sehr sie litten.“
Vor dem Stadion steckte eine wütende Menschenmenge einen Stapel Zeitungen in Brand – darunter wohl auch Exemplare, in denen Brasilien voreilig zum Weltmeistertitel gratuliert wurde. Das Stadion wurde nicht niedergebrannt, aber eine Statue des Bürgermeisters, die der vor dessen Toren hatte aufstellen lassen, wurde niedergerissen. Der abgeschlagene Kopf der Figur wurde in den nahegelegenen Fluss geworfen. Ein paar Stunden später schlichen die brasilianischen Spieler benommen aus der Arena. Viele wankten in umliegende Bars, wo manche von ihnen die nächsten paar Tage verbringen sollten. Friaça, der das brasilianische Tor geschossen hatte, wurde von einer Gruppe Fans erkannt. Sie begannen ihm die Namen der СКАЧАТЬ