Название: Dann mal ab nach Paris
Автор: Hubert Becker
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lindemanns
isbn: 9783963081224
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„Halt’s Maul, dumme Fotze!“, schreit der Schläger. „Sei froh, dass ich dir nicht die Fresse poliere!“
Mut hatte sie schon, meine kleine Ingrid. Sie wusste, wie sie diesen Idioten behandeln musste. Sie kannte den schon seit dem Kindergarten. „Alleine ist der so klein mit Hut“, sagte sie mir einmal und zeigte es mir mit Zeigefinger und Daumen.
Jedenfalls begleiten uns die drei mit höhnischem Gekicher bis zur Haltestelle und warten bis der Bus kommt.
„So, rein mit euch und verpisst euch nach Sandhofen!“
Ingrid ist feuerrot im Gesicht vor Zorn: „Feiges Dreckpack und du“, sie deutet auf den Schläger, „hast es bei mir verschissen bis in die Steinzeit und zurück!“
„Mir doch egal!“ Die Stimme des Schlägers zittert und klingt seltsam belegt.
„Mensch Ingrid, der heult doch tatsächlich, siehst du das?“
„Klar seh ich das, wir waren mal ziemlich dicke miteinander, der tut nur so hart. Ohne seine Leibgarde ist der aufgeschmissen.“
„Aha. Wie dicke wart ihr denn miteinander?“ Ob sie die Eifersucht in meiner Stimme hört?
„Ach lass, les temps sont perdu!“
Ja, Französisch konnte sie auch, meine Ingrid, und nicht nur die Sprache. Sie war überaus intelligent. Aus der ist sicher etwas geworden. Ich hab’ sie leider aus den Augen verloren. War wohl meine Schuld, weil ich gleichzeitig mit ihrer Freundin etwas angefangen hatte, Schuft der ich war. Aber schlechtes Gewissen? Keine Spur, schließlich musste man in diesem Alter so manches ausprobieren.
An der nächsten Bushaltestelle zerrt sie mich wieder aus dem Bus und kühlt mir im Hotel „Darmstädter Hof“ mein lädiertes Auge.
Lampertheim
Seltsam, genau vor diesem Hotel sitze ich jetzt auf der Treppe und hänge trüben Gedanken nach. Da hat mir wohl das Unterbewusstsein den Weg gewiesen.
Ingrid, bist du noch in Lampertheim, bist verheiratet und hast ein Dutzend Kinder? Hoffentlich sieht das Älteste nicht mir ähnlich! Mir fällt ein Lied von Peter Cornelius ein, in dem es heißt: „Bist du nicht die Klaane, die ich schon als Bua gern ghabt hab? Die mit fünfzehn schon kokett war und die enge Jeans anghabt hat!“ Oder waren’s dreizehn?
Sie war jedenfalls fünfzehn, genau wie ich und ebenfalls ziemlich kokett. Mensch Ingrid, wenn ich wüsste, wo du wohnst, ich würde klingeln und wenn mir dein Alter, wenn du einen hast, aufs rechte Auge haut.
Du hattest schon recht, les temps sont perdu! Ich sentimentaler Hund. Stiehlt sich doch da tatsächlich eine Träne aus meinem malträtierten linken Auge. Der französische Spruch erinnert mich daran, wo ich eigentlich hin will.
Ich muss weiter. Ich brauche Geld. Zeit zum Grübeln habe ich auf dem langen Weg nach Paris noch genug. Im Zentrum von Lampertheim gibt es eine Filiale meiner Sandhofer Bank. Anhand meiner Abhebungen könnte man meinen Weg nachverfolgen. Aber was bleibt mir übrig? Ich brauche Geld für die Fahrt, für Übernachtungen, fürs Essen und was weiß ich noch. Und wie lange die Kohle reichen muss, wer weiß. Nachdenklich schiebe ich die EC-Karte in den Schlitz des Geldautomaten – und hebe 1.000 Euro von unserem gemeinsamen Konto ab. Verzeih mir, Hildegard, aber ich bin sicher, dass du über die Runden kommst.
Ich schaue mich vorsichtig um, verlasse die Bank. Paranoia ist jetzt meine ständige Begleiterin. Immer die Angst vor Verfolgern und vor allem dem Eingesperrtsein in einer Zelle.
Ich muss zum Bahnhof und von dort mit dem Regionalexpress nach Frankfurt. Zum Hauptbahnhof nach Mannheim traue ich mich nicht. Das ist für die Polizei sicher das Naheliegendste, dass ich von dort abhaue.
Der Aushangfahrplan zeigt mir: Der erste Regio-Express fährt um 03:48 Uhr, in 40 Minuten, Gleis 5. Eine lange Warterei mit Hummeln im Hintern. Nach 30 Minuten fällt mir ein, dass ich noch ein Ticket brauche. Ich renne zum Fahrkartenautomaten auf Gleis 1. Das Verfahren ist umständlich und dauert. Da wird die Einfahrt des Zuges angesagt. Vier Minuten bis zur Abfahrt. Los, verdammt, mach doch! Ich schlage sinnlos auf den Automaten ein.
„Was soll das?“, höre ich eine Stimme hinter mir. „Wollen Sie den Automaten kaputt machen!“
Ein Polizist.
Alte Zeiten – Viktoria
Ach, wie schön ist doch das Leben. Ach, wie beschissen ist doch das Leben. Zwischen diesen Polen bewegt sich mein Dasein nach der Trennung von Ingrid. Ein Jahr lang waren wir ein Kopf und ein Arsch, oder wie dieser blödsinnige Spruch lautet. Aber weil ich die Finger nicht von ihrer Freundin lassen konnte, hatte sie mich dann buchstäblich vom Acker gejagt. Viktoria hieß die Freundin. Viktoria, die Siegerin. Groß, schlank, blond und so ziemlich für alles aufgeschlossen. Aber sie war alles andere als eine Siegerin. Als regelmäßiges Ritual wurde sie von ihrem Vater, einem fanatischen, christlichen Fundamentalisten, verprügelt und wohl auch missbraucht. Worüber sie nie mit mir gesprochen hatte, aber ich konnte eins und eins zusammenzählen. Es waren ihre äußeren Reize und, ich geb es zu, auch Mitleid, was mich schwach werden ließ.
Ach Ingrid, warum übtest du keine Nachsicht mit einem inzwischen Sechzehnjährigen, der in diesem zarten Alter schon glaubte, Nachholbedarf zu haben. Sofern man in diesem Alter weiß, was Liebe ist, wusste ich, dass ich Ingrid liebte. Und Viktoria? Hm, schwer zu sagen. Aber wenn ich von meinen Träumen damals, wenn es nicht gerade Alpträume waren, ausgehe, so war es einzig und allein Ingrid, die mich nach der Trennung nächtens heimsuchte, also auch ein Alptraum, in Wehmut. Viktoria kam da nur am Rande vor. Und ich Hornochse hab mir das mit Ingrid versaut. Tränen? Scheißdrauf, mit sechzehn, als Junge, da weint man nicht. Doch, man weint, und meine Mutter hat mich damals über meinen Kummer hinweggetröstet. Sie nahm mich in den Arm und meinte: „Mein Kleiner (mein Kleiner!), das wird nicht das letzte Mal in deinem Leben gewesen sein, da müssen wir alle durch, zumindest wir, die wir uns ein zartfühlendes Herz bewahrt haben. Das hatte früher auch dein Vater, bis er zu saufen anfing.“
Aber was treibt einen Mann, der früher nie Alkohol getrunken hatte, dazu, das Saufen anzufangen? Eine verlorene Liebe?
Ach was, da hätte ich auch mit der Sauferei angefangen nach dem Liebesaus mit Ingrid.
Nein, mein Vater war nach 30 Jahren beim Benz entlassen worden, freigestellt, wie es so zynisch hieß. Innerbetriebliche Sparmaßnahmen. Wär ja noch schöner, wenn man auf jeden Rücksicht nehmen wollte, egal, wie lange er schon dabei war. Meinen Alten hatte das völlig aus der Bahn geworfen. Da macht es ihm der Tröster Schnaps viel leichter, das halbwegs zu verkraften. Er zerriss sein SPD-Parteibuch und trat der DKP bei.
„Bei den Sozen war ich auch 30 Jahre und – was hat’s uns genutzt? Kein SPD-Betriebsrat hat uns geholfen. Genossen der Bosse, das waren die!“
Sogar mit den Zielen der RAF hat er sympathisiert, aber deren Morde abgelehnt. So war er, mein Alter, herzensgut und vom Le-ben bitter enttäuscht. Der Seelentröster Alkohol hat ihn schließlich aus dem Sattel geworfen und ihn mit 56 Jahren ins Grab befördert. Da war ich 20 und bei den Jusos mit sozialistischer Theorie und Plakate kleben beschäftigt. Das Herunterreißen von NPD-Plakaten gehörte zur Grundausbildung.
Frankfurt
Ein Polizist steht hinter mir, Bundespolizei, der СКАЧАТЬ