Название: Halbierte Wirklichkeit
Автор: Hans-Dieter Mutschler
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783766642271
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Keiner von diesen dualen Begriffen kann für sich allein definiert werden. Er muss sich immer an seinem Gegenteil abarbeiten. Von daher könnte man dreist sagen: Der Begriff des Materialismus ist selbstwidersprüchlich. Er muss nämlich, wenn er näher bestimmt werden soll, von seinem Gegenteil Gebrauch machen, wodurch er sich aufhebt. Hegel hat als spiritualistischer Monist das Problem viel deutlicher gesehen. Er wusste, dass er den Geist nur relativ zur Materie bestimmen kann. Also hat er sich in einer gigantischen, lebenslangen Anstrengung darum bemüht zu zeigen, dass die Materie nur eine Form des Geistes sei. Man kann zweifeln, ob ihm das gelungen ist, aber er hat zumindest das Problem gesehen, dass wir nämlich Geist und Materie immer nur wechselseitig bestimmen können, während die heutigen Materialisten sich einfach nur auf die Physik berufen, eine Berufung, die ins Leere geht und die nur deshalb einen Schein von Plausibilität hat, weil der Materialist zuvor seine lebensweltliche, vorphysikalische Erfahrung in eine dazu ungeeignete Physik hineinprojiziert hat. Dann interpretiert er die eher ätherischen Größen seiner Theorie wie Energie, Welle, Feld, Photon oder Neutrino als einen Gegensatz zur Materie, die er lediglich postuliert. Von Geist spricht er gewöhnlich nicht, müsste es aber konsequenterweise tun. Aber dann würde deutlich, dass er sich nicht mehr im Binnenbereich der Naturwissenschaft aufhält. Diesen eher ätherischen Größen, Kraft bei Kepler und Newton, Licht bei de Broglie, Feynman und Haken, Raumzeit bei den Quantenfeldtheoretikern, setzt er sodann die Materie entgegen, wodurch dieser Begriff genauso vielgestaltig wird wie das, wogegen er sich abgrenzt. Vielleicht ist dies der Preis, wenn wir wissenschaftliche Ergebnisse in unsere Lebenswelt rückübersetzen. Dann lösen wir die Präzision der Wissenschaftssprache auf in die Vagheit und Mehrdeutigkeit der Alltagssprache. Es ist wie der Übergang von der Photographie zur Malerei.
Könnte es nicht sein, dass die unglaubliche Faszination, die von Gerhard Richters photographieähnlichen Malereien ausgeht, genau daher rührt, dass er diesem Übergang ästhetisch nachspürt, den wir in der verwissenschaftlichten Moderne permanent, jetzt aber in der Wirklichkeit, vollziehen? Ist nicht die Kunst ein Spiegel der Gesellschaft, und wenn dieses ungeklärte Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt tatsächlich ein Grundproblem unseres modernen Bewusstseins sein sollte, dann würde die Faszination von Gerhard Richters Malerei verständlich. Richter legt seiner Malerei tatsächlich echte Photographien zugrunde. Er verfremdet sie dann maltechnisch auf eine Art, die den Betrachter völlig ratlos zurücklässt. Man meint auf den ersten Blick, ein echtes Photo zu erkennen. Bei näherem Zusehen verschwimmt aber das Photorealistische und dann glaubt man plötzlich einen kurzen Augenblick lang an abstrakte Malerei, um diesen Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Richter bleibt ein Rätsel.
Die abstrakte Malerei geht auf Wassily Kandinsky zurück, der den Blick durchs Mikroskop liebte, d. h. diese Art von Kunst hängt direkt mit dem wissenschaftlichen Weltzugriff zusammen. Das Abstrakte ist das Physikalische. Wenn nun richtig ist, was oben gesagt wurde, dass nämlich Wissenschaft von der konkreten Lebenswelt ausgeht, dass sie in einem Akt der Abstraktion, der Idealisierung und Präzisierung bestimmte Züge der Realität deutlicher hervorhebt als es unsere lebensweltliche Intuition jemals könnte, wenn weiter richtig ist, dass wir das Ergebnis dieser Abstraktion, Idealisierung und Präzisierung wieder in den Referenzrahmen der vielgestaltigen Lebenswelt einordnen, um unser wissenschaftliches Tun zu verstehen, dann gibt es eine direkte Entsprechung zwischen Richters Bezug auf die realistische Photographie und dem Bezug des Materiebegriffs zur physikalischen Forschung: Wir treten einen Schritt zurück von der photorealistischen Präzision unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse und sehen uns der Vieldeutigkeit ursprünglicher Lebenswelterfahrung erneut ausgesetzt. Dies irritiert uns ungemein, aber es ist womöglich wahrer (falls man wahr steigern kann), als die photorealistische Präzision unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse. Von daher gesehen gibt es nichts dagegen zu sagen, wenn Physiker die Ergebnisse ihrer Wissenschaft im Licht lebensweltlicher Erfahrung erneut deuten. Erforderlich wäre nur, dass sie diese Deutung als Deutung kenntlich machen und dass wir sie nicht zum Korpus der Wissenschaft als solcher rechnen oder mit Prigogine so tun, als wären die Sozial- und Geisteswissenschaften nun plötzlich Teil der Physik geworden oder als hätten wir Personalität in gewissen Hirnwindungen entdeckt.
Würde hingegen die fundamentale Differenz zwischen Wissenschaft und Lebenswelt beachtet, dann wäre die Abhängigkeit all unserer Deutungen von der praktischen Lebenswelt als ihrer Basis offensichtlich. Bezüglich des Materiebegriffs, der hier vor allem interessiert, müssten wir dann seine substanzielle Abhängigkeit vom dualen Begriff des Geistes zugestehen. Der Materialismus wäre am Ende. Er ist nicht imstande, sich konsistent zu artikulieren: „Matter is, what science studies.“ Die Materie bleibt dem Materialisten ein ignotum X und von daher ist die Selbstsicherheit, mit der er seine Weltanschauung zum intellektuellen Standard erhoben hat, einfach nur die Kehrseite einer Unfähigkeit, den differenzierten Blick zu wagen und auf die pseudoreligiöse Sicherheit eines alles überwölbenden und alles erklärenden Materieprinzips zu verzichten.
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