Halbierte Wirklichkeit. Hans-Dieter Mutschler
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Название: Halbierte Wirklichkeit

Автор: Hans-Dieter Mutschler

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783766642271

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СКАЧАТЬ wie eine philosophische Verzweiflungstat. Können ausdehnungslose Punkte wirklich existieren? Sind sie mehr als bloße Gedankendinge? Können wir uns ein ontologisches Substrat ohne intrinsische Eigenschaften überhaupt vorstellen? Und sollten wir dann nicht ehrlicher mit Kant zugestehen, dass uns das Ding-an-sich unerkennbar bleibt? Es scheint also, dass Kant schon vor über 200 Jahren gesehen hat, dass die Physik aus sich keine eigentliche Ontologie rechtfertigt. Daher seine These, wonach das Ding-an-sich unerkennbar sei. Das ist für die Physik durchaus einsichtig (sonst eher nicht).

      Da die Quantenfeldtheorie die Differenz zwischen Partikel und Feld zum Verschwinden bringt, entwickeln wiederum andere eine sogenannte Tropenontologie. Hier setzt man individuelle, substratlose Eigenschaften als das eigentlich Existierende, und Partikel wären dann bloße Tropenbündel. Aber man handelt sich auf diese Art die Probleme aller Bündeltheorien ein, über die schon gesprochen wurde. Ferner: Läuft diese Tropenontologie nicht einfach darauf hinaus, die Tatsache zu ontologisieren, dass sich die Physik nur auf Eigenschaften, nicht aber auf das den Eigenschaften zugrundeliegende Substrat bezieht? Können wir uns Eigenschaften ohne Eigenschaftsträger überhaupt vorstellen? Ist das nicht wieder ein ähnlicher Fall wie der der Strukturenrealisten, die ebenfalls einfach darauf verzichten, ein ontologisch Zugrundeliegendes zu bestimmen? Wiederum andere, nämlich die sogenannten Super-Substantialisten setzen allein die Raumzeit als das Reale und das allem Zugrundeliegende.

      Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt: Selbst die besten Fachleute können sich nicht einigen, was die Ontologie der Physik sein soll und vor allem identifiziert kein einziger von ihnen das ontologische Substrat der Physik mit der Materie! Aber das müsste doch geschehen, wenn der Materialismus wahr sein sollte und wenn die Physik zuständig wäre für den Materiebegriff! Dann müssten doch die Physiker hinabzoomen können in die Tiefen der Natur, um ein letztes Substrat, genannt Materie zu finden, auf dem dann alles aufruht. Aber sie finden dort offenbar nichts Bestimmtes, sondern lediglich das Unbestimmte, eine Einsicht, die Aristoteles vor über 2000 Jahren vorweggenommen hat, als er die prima materia als das Unbestimmte bezeichnete.

      Es sollte aber darauf hingewiesen werden, dass diese ontologische Unbestimmtheit ein spezifisches Problem der Physik ist, zu der es wohl keine Entsprechung in den anderen Wissenschaften gibt. Einmal deshalb, weil wir in diesen anderen Wissenschaften zumeist mit der natürlichen Sprache arbeiten. Des Weiteren ist es zwar der Fall, dass wir die Objekte der Mikrobiologie genauso wenig sehen können wie die der Mikrophysik, der Unterschied ist aber dieser: Während uns die Gene in lebensweltlicher Erfahrung zwar nicht gegeben sind, sind die Organismen, die sie enthalten, in der Regel in Raum und Zeit klar identifizierbar. Die meisten Tiere, Pilze oder Pflanzen können wir sehen. In der Biologie stellt sich daher das Ontologieproblem auf eine ganz andere Weise, aber die Biologie ist auch nicht zuständig für den Materiebegriff.

      In dem von Esfeld herausgegebenen Band fehlen übrigens idealistische Physikdeutungen. In der Philosophie herrscht heute eine negative Voreingenommenheit gegenüber dem Idealismus. Es gab aber große Physiker wie Planck, Einstein, Heisenberg und Pauli, oder Philosophen wie von Weizsäcker, die die Physik idealistisch gedeutet haben. Im Grunde machten sie dasselbe wie die Strukturalisten: sie ontologisierten die Formeln der Physik direkt, jetzt aber im Sinn zugrundeliegender Platonischer Ideen. Von Weizsäcker hat vergeblich versucht, daraus ein philosophisches System zu machen.15 Das musste aus demselben Grunde misslingen, aus dem auch die sonstigen Versuche gescheitert sind, aus der Physik allein eine Ontologie herzuleiten. Der relationale Charakter dieser Wissenschaft hindert, dass wir in diesem Bereich ein platonisches anhypotheton, ein voraussetzungsloses Erstes finden können, das allem zugrunde liegt. An sich hat Plato dieses Problem schon vor über 2000 Jahren gesehen, wenn er das Mathematische aufgrund dieses seines hypothetischen Charakters nicht mit zu den Ideen rechnete. Doch zeigt bereits die Möglichkeit einer idealistischen Physikinterpretation, dass der Materialismus keine zwingende Folge aus der Physik sein kann. Das sollte den Materialisten mehr zu denken geben, als tatsächlich der Fall ist.

      Es scheint nun, dass das Problem, das sich hier auftut, schon vor 100 Jahren im Wiener Kreis beschrieben wurde. Rudolf Carnap vertritt in seinem ersten großen Werk, dem „Logischen Aufbau der Welt“ eine These, die dem Strukturalismus ähnelt. Er nimmt die Physik ganz ernst und unterstellt, dass sie kein substanzielles Verhältnis zu den Gegenständen ermöglicht. Was wir erkennen, sind immer nur strukturelle Eigenschaften der Gegenstände, niemals diese selbst: „Die Wissenschaft muss rein objektiv sein und jede wissenschaftliche Aussage kann in eine reine Strukturaussage umgeformt werden: Denn die Wissenschaft will vom Objektiven sprechen; alles jedoch, was nicht zur Struktur, sondern zum Materialen gehört, alles, was konkret aufgewiesen wird, ist letzten Endes subjektiv.“16 Das heißt: Für Carnap sind Fragen nach dem Wesen, nach dem Zugrundeliegenden usw. sinnlos. Sie sind in seinen Augen metaphysisch im pejorativen Sinn. Er nennt sie „externe Fragen“, wozu auch Fragen nach Realismus, Idealismus, Materialismus, Spiritualismus usw. gehören. Das würde mit dem hier Gesagten übereinstimmen. Von der Physik aus erkennen wir nur Strukturen und diese sind indifferent zur Unterscheidung zwischen Geist und Materie. Das heißt aber sofort, dass wir von dieser Wissenschaft her keine Aussagen über die Materie als das allem Zugrundeliegende machen können. Leider hat Carnap später diese konsequente Position aufgegeben und sich zu einem weltanschaulichen Physikalismus bekannt, ohne uns die Gründe zu nennen, die dazu geführt haben. Aber in der Regel gibt es keine solchen Gründe. Der Materialismus ist ein Glaube, keine begründbare Theorie.

      Zurück zur heutigen Diskussion um die Philosophie der Physik, wie sie Esfeld zusammengestellt hat: Es fällt auf, dass dieselben Autoren, die nicht imstande sind, ein ontologisches Substrat der Physik zu identifizieren, das allen Kollegen einleuchten würde, verschiedentlich dennoch von Materie reden. Überprüft man diese Rede, dann zeigt sich, dass sie nicht weniger vielfältig ausfällt, sich aber auf einen ganz anderen Aspekt der physikalischen Theorien bezieht. Diese Rede steht offenkundig in der Tradition seit Newton, bestimmte einzelne Größen, wie etwa die Masse, mit der Materie zu identifizieren, wodurch die genannte Paradoxie entsteht, dass dann alle anderen Entitäten, wie Kräfte, Energien, Wellen, Felder etwas Geistiges sein müssten, weil sie ja nichts Materielles mehr sein dürften. Andere Autoren setzen nicht etwa Materie = Masse, sondern sie rechnen Felder mit zur Materie und sprechen kurz von Materiefeldern, wodurch wiederum ein ganz neuer Materiebegriff entsteht. Andererseits haben Physiker wie Louis de Broglie, Richard Feynman und Hermann Haken Bücher geschrieben mit dem Titel „Licht und Materie“. Dieser Sprachgebrauch ist ebenfalls sehr verbreitet. Er liegt aber wiederum quer zu allem, was bisher gesagt wurde und bringt wiederum einen ganz anderen Materiebegriff zur Geltung. Dann gibt es aber auch welche, die alles, was physikalisch bestimmbar ist, mit der Materie identifizieren und dieser allein das Neutrino entgegensetzen, oder solche, die die Fermionen mit der Materie identifizieren, was dann hieße, dass Bosonen, die die Kräfte zwischen den Fermionen vermitteln, nichts mehr mit der Materie zu tun haben könnten. In all diesen Fällen ist es so, dass man willkürlich eine bestimmte Entität aus dem Geflecht der physikalischen Begriffe herausgreift und sie mit der Materie identifiziert, aber jeder greift wieder etwas anderes heraus und es herrscht in dieser Frage keinerlei Konsens unter den Fachleuten.

      Was es mit dieser Wirrnis auf sich hat, wird gerade in den Büchern deutlich, die Licht und Materie kontrastieren. Lebensweltlich erscheint es uns in der Tat so, als sei das Licht etwas ganz anderes als die Materie, denn Licht ist im Gegensatz zur Materie schwerelos. Aus diesem Grunde galt es den Griechen als ein göttliches Element und das ist auch noch so in Goethes Farbenlehre oder in der korrespondierenden Auffassung der romantischen Naturphilosophie, aber auch bei Hegel. Doch mit moderner Physik hat all dies nichts mehr zu tun, dazu ist das, was jeweils Materie genannt wird, viel zu heterogen und das göttliche Licht ist allenfalls eine poetische Metapher.

      Es scheint hier vielmehr erneut die vertraute, mehrfach beschriebene Dialektik am Werk: Aus unserer lebensweltlich-praktischen Erfahrung kennen wir die Differenz zwischen Geist und Materie, weil wir handelnde Wesen sind, die ihre Handlungen realisieren müssen. Wir sind gezwungen, in die Materie einzugreifen, aber immer nur aufgrund von Motiven, die sich zuvor in unserem Geiste gebildet haben, СКАЧАТЬ