Название: Tempowahn
Автор: Winfried Wolf
Издательство: Bookwire
Жанр: Математика
isbn: 9783853718858
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Am 27. September 1825 wurde in England unter George Stevensons Regie die Eisenbahnlinie zwischen Stockton und Darlington eröffnet. In der offiziellen Geschichtsschreibung handelte es sich um die erste öffentlich betriebene Eisenbahn, was so nicht zutrifft.44 Auch wenn diese Verbindung von vornherein für den Personenverkehr zugelassen war, so standen auch hier – wie bei der Kanalschifffahrt – industrielle Interessen im Vordergrund: Es galt, die Kohlevorkommen im südlichen Durham um das Städtchen Auckland besser zu erschließen und seine Standortnachteile (die verkehrsmäßige Isolation) auszugleichen. Erst recht waren industrielle Interessen ausschlaggebend, als ein Jahr später, 1826, die Bahngesellschaft zum Bau der Verbindung Liverpool–Manchester, die durch das industrielle Zentrum des modernen Kapitalismus verlief, gegründet wurde. Die Strecke verlief parallel zu dem bestehenden Kanal und eröffnete so mit einem Paukenschlag die Konkurrenz zwischen Schiene und Binnenschifffahrt. 1826 wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika die Little-Schuylkill-Eisenbahngesellschaft gegründet. Ihr Eigentümer war Friedrich List, der später als Theoretiker für ein deutsches Schienennetz als Korsett für einen deutschen Nationalstaat hervortrat. Am 28. Dezember 1829 nahm auf der Verbindung Baltimore–Ellicot Mills die erste öffentliche amerikanische Dampfeisenbahn den Betrieb auf. Die erste deutsche Eisenbahnstrecke (eine Märklin-Eisenbahn) zwischen Nürnberg und Fürth wurde erst 1835 eröffnet.
Binnen weniger Jahrzehnte entstand in Europa ein Eisenbahnnetz, das bis 1890 223.700 Kilometer Gesamtstreckenlänge aufwies und in den führenden Industrieländern Großbritannien, Frankreich und Deutschland als flächendeckend bezeichnet werden kann. Dabei kam es zu einem dramatischen, Jahrzehnte hin- und herwogenden Wettlauf zwischen dem Eisenbahnbau in Nordamerika und demjenigen in Europa, bei dem es am Ende jedoch einen eindeutigen Sieger gab: die Eisenbahnen in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Tabelle 1: Der Eisenbahnbau in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa 1840− 1925 – Netzentwicklung in Kilometern 45
Jahr | Nordamerika | Europa | darunter Deutschland |
1840 | 4534 | 2925 | 462 |
1850 | 14.515 | 23.504 | 5.875 |
1860 | 49.292 | 51862 | 11.157 |
1870 | 85.139 | 104.914 | 18.810 |
1880 | 150.717 | 168.903 | 34.500 |
1890 | 268.409 | 223.714 | 43.000 |
1900 | 311.094 | 283.878 | 51.678 |
1925 | 420.580 | 310.000 | 57.684 |
In den vier Jahrzehnten von 1840 bis 1880 entwickelten sich die Netze auf dem europäischen und dem nordamerikanischen Kontinent noch weitgehend parallel. Und als 1870 und 1880 Nordamerika hinter Europa zurückzufallen schien, war dies vor allem dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861−1865) geschuldet. Danach allerdings beginnt in Nordamerika ein drei Jahrzehnte andauernder Eisenbahnbau-Boom, der auf der Welt einmalig ist und eine Ausdehnung des Streckennetzes mit sich brachte, hinter der das europäische am Ende um rund 100.000 Kilometer Netzlänge zurückblieb. In diesem Zeitraum wurden im Jahresdurchschnitt 7500 km neue Bahnstrecken erstellt. Auch Deutschland, das in Europa ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts über das größte Schienennetz verfügte, fiel gegenüber den USA von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich zurück. Während das Schienennetz auf deutschem Boden 1860 noch gut 22 Prozent des US-amerikanischen entsprach, waren es 1925 nur noch knapp 14 Prozent.
Auch wenn heute das Auto als Massenprodukt mit dem US-amerikanischen Kapitalismus verbunden wird, so lässt sich doch sagen, dass am Beginn der US-Hegemonie auf dem Weltmarkt dieses Land über das mit Abstand größte Eisenbahnnetz verfügte und dass diese Eisenbahnen erheblich die Stärke der US-Wirtschaft bestimmten. Autos und auch die Autoindustrie selbst spielten damals, 1925, im Verkehrswesen und insbesondere beim Gütertransport noch eine untergeordnete Rolle.
Der bereits zitierte deutsche Ökonom Werner Sombart machte für die deutschen Eisenbahnen eine Rechnung auf, welche die gewaltige Arbeitsleistung, die in dieser Transporttechnologie steckt, verdeutlicht: »In den 70 Arbeitsjahren [des hier betrachteten Eisenbahnbaus in Deutschland; W. W.] sind jährlich 100 Millionen Arbeitstage auf den Bau von Eisenbahnen verwendet worden, eine Drittelmillion Menschen hat Jahr für Jahr nichts anderes getan, als Eisenbahnen gebaut oder hergestellt, was zum Eisenbahnbetrieb gehört: Bahnhöfe, rollendes Material usw.«46 Es handelt sich im Wortsinn um jene »säkularen«, auf ein Jahrhundert und mehr ausgerichtete Großinvestitionen, von der Joseph Schumpeter beim Kanalbau und beim Eisenbahnbau sprach. Diese gewaltige Leistung – zugleich eine Vorleistung für die Ausweitung der Industriellen Revolution und für einen späteren relativen allgemeinen Wohlstand – wurde zu einem erheblichen Maß »von außen« finanziert: Im Fall Englands und Frankreichs waren die Gewinne, die bei der Ausbeutung der Kolonien erzielt wurden, in den Eisenbahnbau investiert und im Schienennetz »kapitalisiert« worden. In Deutschland hängt der Eisenbahnboom der 1870er-Jahre mit dem siegreichen Krieg gegen Frankreich und den französischen Reparationsleistungen an das neue Deutsche Reich zusammen. Oder, in den Worten von Werner Sombart: »Man kann sagen, daß uns Frankreich als Kriegsentschädigung unser Vollbahnnetz ausgebaut hat.«47 Und nicht zuletzt wurde diese gewaltige Aufbauleistung ermöglich durch die extreme – deutlich überdurchschnittliche – Ausbeutung, denen die Eisenbahnbauarbeiter ausgesetzt waren. Hier erleben wir eine Wiederholung dessen, was beim Bau und Betrieb der Kanäle beschrieben wurde. Die Industrielle Revolution war von der »Vernichtung zahlreicher überkommener Erwerbsmöglichkeiten auf dem Lande« begleitet; es kam zu einer »Bereitstellung besitzloser Menschenmassen« (Sombart). Für die so entwurzelten, einkommenslosen Menschen gab es damals, so Gerald Sammet in einer historischen Untersuchung, nur drei Alternativen: »Amerika, die Eisenbahn oder die Fabrik.«48
Neben den Kanälen waren es nun Dampfeisenbahnen, die den Raum ebenso erschlossen wie sie Räume und regionale Strukturen zerstörten. Die Nationalökonomen des 19. und 20. Jahrhunderts wurden nicht müde, insbesondere die ökonomischen Vorteile der Eisenbahn herauszustreichen. Sie konnten sich dabei auf den deutschen Eisenbahnpionier und Eisenbahnunternehmer Friedrich List beziehen, der bereits 1837 voraussagte: »Der wohlfeile, schnelle, sichere und regelmäßige Transport von Personen und Gütern ist einer der mächtigsten Hebel des Nationalwohlstands und der Zivilisation.«49 Er predigte der Landwirtschaft, welche Vorteile der Schlachtviehtransport über große Entfernungen gegenüber dem bisher üblichen Auftrieb hätte: Die damit ausbleibenden Gewichtsverluste (!) der Tiere würden sich in Mehreinnahmen niederschlagen, ein im Übrigen interessantes Argument beim Blick auf die heutigen europaweiten Viehtransporte hin zu den kostengünstigsten Schlachthöfen. Insbesondere führte List der Industrie vor Augen, dass die Eisenbahn Kohle und Erz so nah zusammenrücken würde, wie dies in England zum Teil von Natur aus der Fall war. Aus diesem Grund würde die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands enorm gesteigert werden.
Tatsächlich brachten die Eisenbahnen eine Preisrevolution mit sich und diese wiederum steigerte und beschleunigte Transporte und Verkehr. Es kam zu einem kontinuierlichen Rückgang der Transportpreise im Güterverkehr. Im Zeitraum 1840 bis 1913 reduzierten sich die Transportkosten auf rund ein Viertel. Gleichzeitig – und teilweise als Folge davon – explodierten die Transportmengen: Während sich die tatsächlichen gesamten Ausgaben der deutschen Industrie und Landwirtschaft für Transporte im Zeitraum 1850 bis 1913 »nur« um das 72-fache steigerten, nahm der stoffliche Gütertransport in diesem Zeitraum um mehr als das 200-fache zu.50 Je dichter das Eisenbahnnetz eines Landes und je niedriger die relativen Transportkosten waren, desto ausgeglichener wurde schließlich das allgemeine Preisniveau innerhalb eines Landes. Der rein physische »Standortvorteil« einer Produktionsstätte wurde zunehmend unwichtig; die Eisenbahnen überrollten eine ganze Schule der Nationalökonomie, die Anhänger der Bodenrente.51 Der Preis einer Ware war am Ort der Fertigung nur noch unwesentlich niedriger als an den verschiedensten Verkaufspunkten des nationalen Marktes. Nun konnten auch Fertigungsstätten weit entfernt von den zur Produktion benötigten Rohstoffen errichtet werden, ohne dass damit größere СКАЧАТЬ