Transformativer Realismus. Marc Saxer
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Название: Transformativer Realismus

Автор: Marc Saxer

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная публицистика

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isbn: 9783801270339

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СКАЧАТЬ Doch auch die Rettungsaktionen der Zentralbanken und Staaten verschaffen nur kurzfristige Verschnaufpausen, verschlimmern langfristig sogar die Systemkrise. Das billige Geld treibt die soziale Ungleichheit, die Staatsschulden spalten Europa. Und jeder Versuch, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, provoziert eine neue Welle populistischer Revolten, die Europa auseinanderreißen und unsere Demokratien bedrohen.

      Im Folgenden wollen wir in schnellen Schritten die vielen Baustellen der Systemkrise abschreiten, um besser zu verstehen, wie sich die Krisen gegenseitig bedingen und verstärken.

       Kapitel 1

      Die Produktivitätsrevolution zündet nicht

      Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte ist das Wohlstandsniveau rund um den Globus immer weiter gestiegen. Angetrieben wurde dieser historisch einzigartige Aufschwung durch die schiere Explosion der Produktivität in den industriellen Revolutionen.

      Die Strategie, die Produktivität durch technologische Innovationen weiter zu steigern, liegt daher nahe. Und tatsächlich erlebten wir in den vergangenen Jahrzehnten gewaltige Innovationsschübe, etwa in der Computer-, Kommunikations- oder Biotechnologie. Im neuen Jahrtausend revolutioniert die Digitalisierung Wirtschaft und Gesellschaft. Doch trotz all dieser monumentalen technischen Fortschritte hat der Ökonom Robert Gordon nachgewiesen, dass die Produktivität der Volkswirtschaften insgesamt kaum wächst.4

      Warum das so ist, stellt Wirtschaftswissenschaftler vor ein Rätsel. Vielleicht sind unsere Messinstrumente zu ungenau, um den Mehrwert der digitalen Wundertechnologien zu erfassen? Oder sind die Effizienzsteigerungen in einer Dienstleistungsökonomie nicht so groß wie im alten Industriekapitalismus? Oder liegen die großen Produktivitätssprünge, wie Gordon vermutet, bereits hinter uns?

      Ob die digitale Revolution den ersehnten neuen Wachstumszyklus auslösen kann, bleibt also abzuwarten. Doch bereits heute sind Zweifel angebracht. Denn die digitale Automatisierung optimiert vor allem den Vertriebsweg zwischen Hersteller und Konsument. Statt selbst in die Ladengeschäfte zu gehen, wählt der Konsument von morgen unter Hunderten Produkten auf einer Onlineplattform aus und bekommt seine Bestellung innerhalb von 24 Stunden per Drohne nach Hause geliefert5. Effizientere Logistik alleine löst aber nicht das Grundproblem der schwächelnden Nachfrage. Solange die Konsumenten unterm Strich nicht mehr konsumieren, bleibt die Digitalisierung ein Nullsummenspiel: Die fixeren Unternehmen jagen den langsameren Marktanteile ab, doch die Volkswirtschaft als Ganzes wächst nicht.

      Wächst die Produktivität nicht, stagnieren bei gleichbleibenden Löhnen die Profite der Unternehmen. Steigen die Löhne nicht, schwächelt die Kaufkraft der Konsumenten. Ohne Konsumnachfrage haben die Unternehmen wenig Anreize, zu investieren. Ganz im Gegenteil: Sie werden versuchen, ihre Preise zu senken, indem sie die Lohnkosten drücken. Willkommen in der Zombiewelt stagnierender Löhne, nachlassender Kaufkraft, schwindsüchtiger Investitionsanreize, schwachen Wachstums, sozialer Verteilungskonflikte, wachsender Ungleichheit, sozialer Abstiegsängste und populistischer Revolten.

      In dieser Zombiewelt gibt es natürlich nach wie vor technische Innovationen. Die jüngsten Errungenschaften im Bereich der Künstlichen Intelligenz, bei Supercomputern oder in der Nanotechnologie zeugen von dieser Innovationskraft. Doch abseits dieser innovativen Nischen ist die politische Ökonomie aller Disruptionsrhetorik zum Trotz erstaunlich konservativ. Die Gesellschaft als Ganzes setzt eher auf die Bewahrung des Bestehenden als auf kreative Zerstörung, um Neues zu schaffen.

      Warum ist das so? Eingezwängt zwischen stagnierenden Reallöhnen und explodierenden Lebenshaltungskosten kämpft die Mittelschicht aus unteren, mittleren und gehobenen Angestellten, Facharbeitern, Bauern, kleineren Selbstständigen und Beamten ums Überleben. Mit dem Rücken an der Wand widersetzt sich die Mittelklasse jeder weiteren Einschränkung ihrer finanziellen Spielräume, seien es Steuern zur Finanzierung öffentlicher Güter, seien es Sozialabgaben zur Sicherung der sozial Schwächeren. Aus den Mittelschichten rekrutiert sich die überwältigende Mehrheit der Wähler. Will die Mittelschicht weniger Staat, wollen es auch die Parteien.

      Konsumieren Mittelschicht und Staat weniger, sinkt der Anreiz für Unternehmen, zu investieren. Bleiben infolgedessen neue Beschäftigungsmöglichkeiten aus, setzt die Politik alles daran, wenigstens das Bestehende zu retten. Niedrigzinsen und staatliche Rettungspakete unterlaufen langfristig jedoch die gesunde Selbstkorrektur des Marktes. Damit sind nicht Ausnahmesituationen gemeint, die nichts mit dem normalen Marktgeschehen zu tun haben. In der Coronakrise sind beispielsweise auch kerngesunde Unternehmen unverschuldet in eine Schieflage geraten; in solchen Fällen ist es richtig, gesunde Industrien mit Tausenden von Arbeitsplätzen zu retten. Problematisch wird es, wenn der Staat Unternehmen weiter durchschleppt, deren Geschäftsmodell sich schon lange vor der Krise überlebt hatte. Unfähig, sich aus dem Morast ihrer Schulden zu befreien, schaffen diese Untoten nichts Neues mehr. Statt die knappe Kaufkraft für innovative Anbieter freizugeben, überleben unprofitable Unternehmen am Tropf der Staatshilfen.

      Das billige Geld hält Zombiebanken, Zombieunternehmen, ja ganze Zombievolkswirtschaften künstlich am Leben6. Deutsche Banken, chinesische Staatsunternehmen, italienische Fluggesellschaften, bankrotte Euroländer werden durch immer neue Finanzspritzen »gerettet«. Auch deswegen sind die Volkswirtschaften in ihrer Breite weniger innovativ als die digitale Avantgarde.

      Und doch dürfen die Zombies nicht sterben. Sie müssen sich weiterschleppen, um dem lebensfähigen Teil der Ökonomie Zeit zu kaufen, in einen neuen Wachstumszyklus einzutreten. Darauf warten aber etwa die Japaner seit Jahrzehnten. Der Soziologe Wolfgang Streeck argumentiert sogar, dass alle entwickelten Volkswirtschaften durch künstlich geschaffene Nachfrage über vier Jahrzehnte am Leben erhalten wurden. Die Inflation der 1970er-Jahre, die öffentliche Verschuldung der 1980er-Jahre, die private Verschuldung der 1990er-Jahre und die Bondskäufe der Zentralbanken (quantitative easing) der 2000er-Jahre sind demnach allesamt Versuche, zukünftige Ressourcen für den gegenwärtigen Konsum verfügbar zu machen.

      In diesem Klima aus abstiegsgefährdeten Mittelschichten, bankrotten Kommunen, klammen Staaten und übervorsichtigen Unternehmen finden sich keine gesellschaftlichen Mehrheiten für den großen Befreiungsschlag. Wo Disruptionen technisch möglich wären, bleiben sie politisch im Dickicht der Interessen stecken.

      Die Energiewende ist festgefahren

      Und so ergeht es auch einem weiteren wichtigen Treiber der Produktivitätsrevolution: der Energiewende.

      Technologische Innovationen waren keineswegs die einzigen Triebkräfte der historischen Produktivitätssprünge. Mindestens genauso wichtig waren neue Energieträger, zunächst Kohle, dann Öl und Gas. Der Menschheit ist es gelungen, die seit Millionen von Jahren unter der Erde schlummernden Energiequellen für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Über ein Jahrhundert lang waren es die fossilen Brennstoffe, die sprichwörtlich jedes Rädchen der Weltwirtschaft am Laufen gehalten haben. Der Zugang zu diesen Energieträgern, allen voran dem Öl, war so wichtig, dass darum Kriege geführt wurden. Dieses fossile Zeitalter geht nun zu Ende. Dafür gibt es ökologische und ökonomische Gründe.

      Die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas heizt die Erderwärmung an. Steigt die globale Mitteltemperatur um mehr als 2° Celsius über den vorindustriellen Wert, nehmen Wetterextreme wie Stürme, Dürren oder Überschwemmungen ein kaum noch zu bewältigendes Ausmaß an. Steigt der Meeresspiegel an, werden Hunderte Millionen Menschen aus Küstengebieten und von Inselstaaten vertrieben. Städte wie Venedig, New York oder Bangkok drohen im Meer zu versinken. Bereits heute ist die Versorgung mit sauberem Trinkwasser in vielen Ländern gefährdet. Kollabieren die Ökosysteme der Ozeane, fällt nicht nur der größte Speicher für überschüssige Wärme und Kohlenstoffe aus, sondern auch der wichtigste Produzent von Sauerstoff als Basis allen Lebens. Setzt sich das Insektensterben fort, steht die Versorgung mit Nahrungsmitteln auf СКАЧАТЬ