Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich
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СКАЧАТЬ Sendung hatte leider ein Nachspiel, auf das ich hätte besser achten müssen. Nach der Sendung diskutierte der Bundeskanzler munter mit den Journalisten weiter, auch über kritische Fragen der Wiedervereinigung Richtung Nachbarn im Osten. Und einer der Herren berichtete „auf seine Weise“ darüber in Paris, wo einige ein Interesse hatten, es in Richtung Bonn zurückzuspielen, und zwar unter Nutzung der Bande, sprich über deutsche Journalisten und über Genscher. Die Kollegen im Elysée fragten mich indes offen nach dieser Diskussion und ich konnte Gott sei Dank die Äußerungen klarstellen.

      Einen genauso hoch sensiblen Helmut Kohl erlebten dann Millionen Franzosen als zugeschalteten Gast in der Fernseh-Debatte zwischen Mitterrand und Séguin wenige Tage vor dem Maastricht-Referendum 1992 oder Jahre später im Interview mit Anne Sinclair in ihrer Reihe „7 sur 7“.

      Aufgabenfeld und -stellung im Bundeskanzleramt erwiesen sich als Minenfeld im Verhältnis zu den Fachressorts. Die Abteilungen des Bundeskanzleramts sind nicht einfache „Spiegelabteilungen und -referate“ zu den Fachministerien, sondern zugleich auch Helfer des Bundeskanzlers und des Chefs des Bundeskanzleramts zu deren Unterstützung wie zur möglichst reibungslosen Durchführung der Regierungs- und Koalitionsarbeit.

      Für Helmut Kohl waren wir eine Mischung aus „Pendant“ und Bindeglied zu den federführenden Ministerien, wir waren zugleich sein operativer Arm, den er ggf. einsetzen konnte, und zugleich Planungsstab, der mittel- und längerfristig Politik entwickelte.

      Der Konflikt war und ist im deutschen institutionellen System strukturell angelegt, er ist durch den Spannungsbogen zwischen der „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers auf der einen Seite und dem „Ressortprinzip“ auf der anderen Seite vorprogrammiert.

      Erwartete der Bundeskanzler die Umsetzung seiner politischen Linie und Überzeugung, so bedeutete dies nicht unbedingt, dass damit das Auswärtige Amt, die Verteidigung, das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit oder die eigene Fraktion im Bundestag oder im Europäischen Parlament immer einverstanden sein mussten.

      Die Presse stilisierte mitunter die damit verbundenen verdeckten, zuweilen auch offenen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte hoch zum „Neben- oder heimlichen Außenminister“. Dies klang natürlich gut und nach Schlagzeilen bzw. nach Ärger, entsprach aber in keiner Weise der Realität, der über weite Strecken engen und vernünftigen Zusammenarbeit mit den mir „anvertrauten“ Häusern.

      Zugleich ist es schon richtig, dass die formale Struktur mit dem „Ministerialdirektor“ an der Spitze der Abteilung im Kanzleramt nicht einfach der Hierarchie der Fachressorts entsprach. Dennoch kann ich im Rückblick die echten Streitfälle an zwei Händen abzählen. Helmut Kohl, dem die Europapolitik wie auch einige Kernthemen der Außenpolitik besonders am Herzen lagen, bediente sich seiner Mitarbeiter, um Politik zu erläutern, Hintergründe diskret zu sondieren, Ideen zu testen, Vertrauensverhältnisse aufzubauen und zu vertiefen, Verhandlungen oder Treffen vor- oder nachzubereiten oder schlicht um seine Außenpolitik zu flankieren.

      Daraus ist über die Jahre mit Politikern und Kollegen in Deutschland wie in Europa und auf internationaler Ebene ein enges Vertrauensverhältnis, eine Art Netzwerk entstanden. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen bin ich noch heute befreundet oder zumindest in Verbindung. Mitunter musste ich für manche auch als der „verlängerte Arm“ Helmut Kohls, sein „Strippenzieher“, wie der Economist einmal titelte, aber auch sein „Terrier“ oder „Wadenbeißer“ erscheinen – auch dies gehörte zur Aufgabe – als ob es dies in den Ministerien oder in den Fraktionen oder selbst im Europäischen Parlament nicht auch gegeben hätte!

      Umgekehrt erwartete das „Mutterhaus“ Auswärtiges Amt – außer dem Minister selbst, der dieses Spannungsfeld sehr wohl einzuschätzen wusste – wie selbstverständlich die Hilfe bei der Durchsetzung seiner Auffassungen gegenüber dem Bundeskanzler(-amt) und den anderen Ministerien. Oft war damit von manchen Kollegen viel zu wenig Verständnis dafür verbunden, dass es für mich keine gespaltene oder doppelte Loyalität geben konnte.

      Hinzu kamen – und auch das gehörte dazu – eine gute Portion Eifersucht, Neid über die vermeintliche Machtstellung bzw. deren Nutzung, abgesehen von der manchmal recht eigenwilligen, von Genscher geförderten und von Kohl in Nebenthemen geduldeten Interpretation des „Ressortprinzips“ seitens des AA versus „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers.

      Zudem verstanden die gleichen Kollegen viel zu wenig, dass diese vermeintliche Macht „abgeleitet“ war und vom Kanzler jederzeit widerrufen werden konnte – und dass ich auch zuweilen unter unmissverständlicher Weisung seitens des Bundeskanzlers stand. Ich wäre immer der erste gewesen, der „seinen Hut hätte nehmen müssen“. Insofern führten Führungsstil und -methode von Helmut Kohl dazu, dass ich regelmäßig auf Risiko arbeiten musste und zwar auf mein eigenes Risiko.

      Oft genug habe ich im Kanzleramt versucht, das „Amt“ und die Kollegen im Zweifel zu unterstützen, zu schützen und dafür genug Prügel, manchmal von beiden Seiten, einstecken müssen. Einer der wenigen, der dies, wenn auch (zu) spät begriff, war der frühere Außenminister Kinkel, der in der Schlussphase erfahren musste, von eigenen Leuten im Stich gelassen zu werden.

      Manchmal kosteten die „Kollegen“ mich mehr Nerven und Anstrengung als es die Sache letztlich wert war. Viele freuten sich daher als „Gottes Strafe“ über die Wahlniederlage 1998, hofften auf meine sofortige Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Sie mussten sich noch ein wenig gedulden und mich als Botschafter zunächst bei der NATO in Brüssel, dann in Spanien ertragen. Mit anderen hat sich ein vertrauensvolles, je freundschaftliches Verhältnis bis heute erhalten, dafür bin ich ihnen dankbar.

      Zugleich gab es aber auch Kollegen aus anderen Häusern, mit denen ich diskret Kontakt hielt. Wir nutzten ein über die Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis, um uns gegenseitig auch über sensible Vorgänge zu unterrichten. Ich nenne insoweit bewusst Vizeadmiral Ulrich Weisser, er war einer der wenigen strategisch denkenden in der Bonner Szene, er war der Vertraute des selbstbewussten, oft an die Grenzen seiner „Autonomie“ gehenden Verteidigungsministers Volker Rühe und im Kanzleramt im Umfeld des Bundeskanzlers nicht wohl gelitten. Trotzdem hielten wir engen Kontakt, hielten uns diskret auf dem laufenden, ohne unbedingt unseren Chefs darüber alles zu berichten – für ihn wie für mich nicht ohne Risiko, aber das gehörte einfach zum Geschäft.

      Helmut Kohls „rote Fäden“ – Determinanten deutscher Außenpolitik

      1. Ausgangspunkte und Grundlagen

      Ausgangspunkt meiner Beobachtungen und Betrachtungen als „Zeitzeuge“ der Ära Kohl müssen die Determinanten, die Grundlagen und Ziele deutscher Außenpolitik darstellen. Ich möchte dabei auch vor allem der Frage nachgehen, inwieweit diese sich mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konflikts verändert haben.

      Es mag kaum jemanden, der mich kennt, verwundern, dass ich das deutsch-französische Verhältnis und seine Zukunft quasi „vor die Klammer“ ziehe und ihm besondere Aufmerksamkeit widme.

      Darauf aufbauend folgen die Entwicklung der deutschen Europapolitik in jenen Jahren als dem zentralen Baustein deutscher Politik sowie die Fragen nach der deutschen Außenpolitik, insbesondere das Verhältnis zu Nordamerika, ehemals Eckpfeiler unserer Außenpolitik, heute in der Gefahr des Auseinanderdriftens, sowie zu Asien und den anderen Kontinenten. СКАЧАТЬ