Название: Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa
Автор: Joachim Bitterlich
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783838274508
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Bei unserem letzten Gespräch in Berlin im Jahre 2015 wirkte er gesundheitlich geschwächt, aber durchaus engagiert und alert. Die Nachricht von seinem Tode am 31. März 2016 im Alter von 89 Jahren hat mich getroffen. Auch wenn ich „nur“ zwei Jahre mit ihm direkt gearbeitet habe und ihn und seine Politik über zehn Jahre als Angehöriger des Auswärtigen Dienstes von den Vertretungen in Algier und Brüssel, dann aus dem Kanzleramt mitverfolgte, so fühlte ich mich mit ihm doch besonders verbunden, er war einer meiner „Mentoren“, mein erster „Lehrmeister“, der mich in gewisser Weise begonnen hat zu formen, herauszufordern und der mich gefördert hat.
Bundespräsident Joachim Gauck hat Hans-Dietrich Genscher im Rahmen der Würdigung seines politischen Wirkens beim Staatsakt am 17. April 2016 zu Recht als einen „deutschen Patrioten und überzeugten Europäer“ bezeichnet. Er stellte zudem fest, dass „die Verbindung aus Prinzipientreue und Pragmatismus, langfristiger Strategie und Erkennen des kurzfristig Gebotenen“ das Wirken Genschers gekennzeichnet habe. Genscher war in all den Jahren auch bei den Verbündeten nicht unumstritten, dies galt vor allem für sein unerschütterliches Eintreten für den Ausbau der KSZE, die eines Tages die militärischen Bündnisse in Europa ablösen könnte. Darauf wird noch an anderer Stelle einzugehen sein.
Genschers Persönlichkeit, seine Stärken, Ecken und Kanten wurden mir nach seinem Tode noch einmal vor Augen geführt, als mich die Herausgeber der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ des Jahres 1986 dazu einluden, die wesentlichen politischen Elemente dieser Zeit vorzustellen.
„Abwerbung“ in das Kanzleramt
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, dem ich bis dahin in meinen Brüsseler Jahren bei den verschiedenen Tagungen des Europäischen Rates eher flüchtig begegnet war, hat mir dann im Frühsommer 1987 völlig unerwartet die Chance eröffnet, im Bundeskanzleramt an seiner Seite bzw. in der von Horst Teltschik geleiteten Abteilung die Europapolitik zu betreuen.
Diese „Einladung“ zum Wechsel in das Bundeskanzleramt, die mir der damalige Staatsekretär Jürgen Sudhoff eröffnete, brachte mich in eine „Zwickmühle“. Sie kam unerwartet und war zudem ungewöhnlich, als ich doch damals Mitarbeiter im direkt dem Bundesminister des Auswärtigen unterstehenden Leitungsstab des Auswärtigen Amtes war.
Wie sollte er die „Abwerbung“ eines seiner Mitarbeiter durch den Koalitionspartner bewerten? Ich war ein viel zu kleines Licht, um daraus eine Debatte oder gar einen Streit in der Koalition zu entfachen, und doch, Genscher schien nachzudenken, er zögerte, taktierte.
Ich hatte ihm offen gesagt, ich sei 1985 seinetwegen nach Bonn zurückgekehrt und sähe meine Zukunft im Auswärtigen Amt. Ich war nach Bonn in das Ministerbüro gekommen, um für und mit Hans-Dietrich Genscher zu arbeiten. Ihm galt meine uneingeschränkte Loyalität. Er wusste, dass ich nicht Mitglied der FDP war, trotzdem schickte er mich, wenn es sein musste, selbstverständlich zu internen FDP-Sitzungen. Ob in Sachen Wirtschaft, Landwirtschaft oder Europa, so war ich zuweilen als „Beobachter“ von Hans-Dietrich Genscher dabei.
Und es war letztlich er, der mich nach einigem Nachdenken ermutigte, das Angebot aus dem Kanzleramt anzunehmen – „dies sei gut für ihn und gut für das Auswärtige Amt. Ein Mitarbeiter seines Vertrauens in der unmittelbaren Nähe des Bundeskanzlers sei für ihn wichtig. Zudem könne „der Bundeskanzler mir eine Perspektive bieten, die für ihn im Amt schwieriger sei“ waren seine Worte.
5. Über elf Jahre im Bundeskanzleramt an der Seite Kohls, 1987–98
Und so begannen im Mai 1987 über elf höchst intensive, spannende Jahre, die wie keine andere Zeit mein Berufsleben und die Zukunft prägen sollten – Jahre, die mich einem Politiker näher bringen sollten, der für mich bis dahin weitgehend fremd, dessen Haltung und Vorgehensweise im Grunde „terra incognita“ waren.
Ich war Helmut Kohl seit Herbst 1982 einige Male bei Europäischen Räten begegnet, im Gegensatz zu Hans-Dietrich Genscher hatte er bei mir kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich erinnerte mich an einen Bundeskanzler, der eher aus der Defensive operierte, der zuhörte, abwartete – im Rückblick würde ich sagen, der, sich ein Bild verschaffen, der die Akteure zunächst einmal besser kennen lernen wollte.
Ich brauchte Zeit, um sein Vertrauen zu gewinnen – und zugleich musste ich ihn kennen lernen, um mit ihm, seinem Stil, seiner Arbeitsweise zurecht zu kommen. Er war zunächst misstrauisch, abwartend, aber doch einladend und zugleich testend, zudem fordernd. Die „Probezeit“ dauerte rund ein halbes Jahr, bis erste echte Herausforderungen auf mich zukamen.
Daraus wurden über elf faszinierende Jahre, mitunter harte Lehrjahre, zunächst sechs Jahre Europapolitik, dann fünf Jahre die Herausforderung – aus meiner Sicht das höchste, schönste und herausforderndste Amt für einen Beamten des Auswärtigen Amtes, die Leitung der Abteilung für Außen-, Sicherheits- sowie Entwicklungspolitik im Bundeskanzleramt – kurz gesagt, der europapolitische, diplomatische und sicherheitspolitische Berater des Bundeskanzlers, für die Amerikaner der „national security advisor“ – eine im Geflecht der europäischen Länder einzigartige Position.
Über elf Jahre intensiver, spannender Arbeit, Arbeitszeiten waren ein Fremdwort. Es waren Jahre epochaler Ereignisse sei es die deutsche Wiedervereinigung oder die Verhandlungen um Maastricht oder Amsterdam oder der Weg hin zur europäischen Währungsunion.
Ein Bundeskanzler und Chef – ganz anders als gedacht
Dr. Helmut Kohl entpuppte sich als ein ganz anderer „Chef“, als ich dies erwartet hatte. Anspruchsvoll, oft unbequem, immer wieder das politisch-strategische Vorausdenken fordernd, nie von einer Zuarbeit allein abhängig, sich oft auf mehrere voneinander unabhängige „Quellen“ stützend, sowie auf seine Erfahrung, seinen politischen Instinkt – der die Jugend oft genug bremsen, korrigieren, aber auch ermutigen sollte.
Er war ein Mann, der unter vier Augen klar Widerspruch forderte und akzeptierte, der oft genug bereit war, erste Reaktionen oder Tendenzen zu hinterfragen, sie auch zu revidieren.
Er war zugleich eine hoch sensible Persönlichkeit, vor allem in Bezug auf Loyalität, immer auf der Hut, er war ein Mann, der in der Regel jovial, freundschaftlich gegenüber seinen engen Mitarbeitern war, ja Zuneigung ausdrückend, mitunter auch frotzelnd, derb, grob, sich in Bildersprache ausdrückend, zuweilen polternd, ja auf den ersten Blick verletzend – ich lernte erst mit der Zeit, wie ich damit umzugehen hatte, wie ich den „Ausbruch“ einzuschätzen hatte, dass es in Wahrheit zumeist gar nicht so gemeint war.
Als reine Provokation musste ich das „Pamphlet“ von Heribert Schwan „Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“ empfinden. Seine Enttäuschung über das aufgekündigte Arbeitsverhältnis kann die unter klarem Bruch von Vereinbarungen erfolgte Veröffentlichung einer Zitatensammlung, die zudem immer wieder sichtbar aus dem Zusammenhang gerissen und nicht nur willkürlich erscheint, in keiner Weise rechtfertigen. Ich kann sie nur als gezielte verächtliche Verunglimpfung von Helmut Kohl, seiner Politik und Lebensleistung empfinden. Es hat mit einer politisch-historischen Auseinandersetzung mit der Kanzlerschaft Helmut Kohls nichts zu tun.
Bei Lektüre der „Zitatensammlung“ Schwans habe ich mich gefragt, ob Schwan – der doch einige Jahre als „Ghostwriter“ an verschiedenen Werken mit Helmut Kohl gearbeitet hat – ihn wirklich je verstanden hat? Wäre dies der Fall, so hätte er gewusst, wie er die mitunter derben Einlassungen des Bundeskanzlers einzuordnen und wie er vor allem damit umzugehen hat! Auch ich habe dies über die Jahre СКАЧАТЬ