Nimm dir Zeit zum Nachdenken
Die große Herausforderung im Umgang mit der Perfektion ist, herauszufinden, wo die Grenze zwischen einem zu perfektionistischen Vorgehen und einem Vorgehen verläuft, bei dem es darum geht, die Dinge ordentlich und vernünftig voranzubringen. Es handelt sich oft um eine Gratwanderung, die jedoch den Unterschied ausmacht, der darüber entscheidet, ob wir erfolgreich sind oder nicht.
Wo verläuft bei deinem nächsten wichtigen Projekt diese Grenze?
Das Pareto-Prinzip und die Perfektion
Über die sogenannte 80-20-Regel ist mittlerweile so viel geschrieben worden, dass ich es mir erspare, die Hintergründe im Detail zu erläutern. Auch ich habe bereits in anderen Büchern ausführlich darüber geschrieben. Wem das Prinzip und die Entstehungsgeschichte noch nicht genau bekannt sind, der findet die entsprechenden Erläuterungen unter https://de.wikipedia.org/wiki/Paretoprinzip. Für diejenigen, die das Prinzip überhaupt noch nicht kennen, erläutere ich kurz, was damit gemeint ist. Bei dem Prinzip geht es, vereinfacht ausgedrückt, darum, dass man mit 20 Prozent des Aufwands 80 Prozent der Leistung schafft. Für die restlichen 20 Prozent benötigt man 80 Prozent der Zeit.
Wir haben also nach 20 Prozent der Zeit bereits 80 Prozent unserer Leistung erbracht. Das Prinzip verdeutlicht anschaulich, dass wir den größten Teil unserer Zeit dafür einsetzen, um an Feinheiten zu feilen, obwohl die Arbeit doch schon mit 20 Prozent des Aufwands fast erledigt ist. Darum frage ich mich:
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Wie oft eigentlich ist das 80-Prozent-Feintuning für die Erbringung der Leistung und die ordentliche Erledigung einer Aufgabe wirklich erforderlich?
Ist es immer notwendig, zu feilen, zu optimieren, zu verbessern – nur um eine weitere Steigerung von 20 Prozent zu erreichen, für die aber ein immenser Aufwand betrieben werden muss? Ist es an dieser Stelle nicht angebracht – ja, zuweilen sogar intelligenter –, den Mut zur Lücke aufzubringen? Aber stopp: Eine 20-Prozent-Lücke? Ist das nicht doch etwas viel?
Dass Perfektionismus Leistungsstärke verhindern kann, ist bereits deutlich geworden. Allerdings bin ich auch der Auffassung, dass gute Qualität und ordentliches Arbeiten Voraussetzungen für Glückserfüllung und Leistungsstärke sind. Die 80 Prozent, die wir für die Feinarbeit benötigen, sind daher nicht zu vernachlässigen, sie sind wichtiger Bestandteil unserer Aufgabe. Es ist erforderlich, unsere Aufgaben sorgfältig auszuführen und die Kraft aufzubringen, ein Vorhaben mit guter Qualität zu Ende zu führen. Zur Steigerung des Selbstbewusstseins benötigen wir eine ordentliche Leistung, ein gewisses Maß an Anstrengung und Einsetzungskraft. Wir brauchen das Gefühl, dass wir etwas vollbracht haben, etwas, das zur Anerkennung führt und uns selbst innerlich erfüllt. Auf der anderen Seite ist es sehr wichtig, dass wir uns vor Augen halten, dass das Feintuning den größten Teil unserer Zeit in Anspruch nimmt. Darum ist es zielführend, zu prüfen, ob jenes Feintuning tatsächlich notwendig ist. Oder ob dies nur dazu führt, dass wir uns in Details verstricken, ohne dadurch einen lohnenden Mehrwert zu erreichen.
Wenn wir bereits für die letzten 20 Prozent ungefähr 80 Prozent unserer verfügbaren Zeit einsetzen, wird klar, wie viel Zeit wir für die letzten 5 Prozent benötigen. Da stellt sich die Frage, ob die letzten 5 Prozent Feintuning nicht in über 95 Prozent der Fälle vernachlässigbar sind und wie viel Optimierungspotenzial wir dadurch tatsächlich gewinnen würden.
Oh je, so viele Zahlen, kannst du noch folgen? Sorry, es war mir jedoch wichtig, dir noch einmal deutlich zu machen, wie viel Zeit wir meist für die Umsetzung der letzten 5 Prozent unserer Aufgabe verwenden und wie viel Freiraum wir uns schaffen könnten, wenn wir hier mit guter, allerdings nicht mit übertriebener Leistung zu einem Ende kommen. Leider scheint es dazu keine verdeutlichende Studie zu geben, die den von mir beschriebenen und vermuteten Zusammenhang nachweisen könnte, ich befürchte, sie würde uns wohl vor allem erschrecken.
Oft reichen auch 95 Prozent für eine sehr gute Leistung
Als ich mit 17 Jahren meine erste Ausbildung als Tischler gemacht habe, wurde am Ende der Ausbildung ein Gesellenstück erstellt. Dies bedeutet, dass der Auszubildende ein (in der Regel) Möbelstück komplett selbstständig entwirft, plant, zeichnet, zuschneidet, baut und lackiert. Das Möbel wird also von ihm vom ersten Gedanken bis zur Fertigstellung selbstständig produziert.
Ich habe mich damals für ein sehr modernes Möbelstück entschieden. Ich wollte etwas ganz Besonderes entwerfen und mich dabei durchaus von der klassischen Norm entfernen, also etwas Außergewöhnliches schaffen, auch was die Farbgebung betraf. Diese Norm nannten wir damals P43, das war der typische nussig-braune Eichen-Farbton, der für rustikale Möbelstücke verwendet und von der Mehrheit der Tischler benutzt wurde. Mein Möbelstück aber sollte eine innovativere Farbgebung erhalten. Ich entwarf also ein sehr modernes Telefonschränkchen. Zur kurzen Erklärung für die Jüngeren unter euch: Zu dieser Zeit gab es noch Telefone im Haus, diese waren kabelgebunden, es ging also ein Kabel aus der Wand bis ans Telefon. In der Regel gab es dazu Utensilien, wie zum Beispiel ein Telefonbuch, dieses hatte DIN-A4-Größe und war ungefähr 4 cm dick. Man brauchte es, wenn man eine Telefonnummer suchte. Das Internet gab es ja noch nicht. Was aber hat das mit dem Telefonschränkchen zu tun? Nun, die Menschen wollten und mussten das Telefon und die Utensilien wie Stift und Papier unterbringen, genau dafür gab es Telefonschränkchen.
Mein Schrank war asymmetrisch aufgebaut und mit einer dreieckigen Tür versehen. So etwas war damals noch nicht verbreitet. Hinzu kam meine außergewöhnliche Farbwahl – eben nicht P43. Also: Grundfarbe Schwarz, Türe und Schublade in Rot. Das war schon ein richtiger Eyecatcher. Ich gebe zu, ich war ziemlich stolz auf meine Idee und meinen Entwurf, und das Ganze war mir dann in der Produktion auch ganz ansehnlich gelungen. Nur an einer Stelle gab es ein Problem: Ich hatte den Lack etwas zu früh aufgetragen, der Leim war daher nicht überall genügend ausgehärtet. Dies führte dazu, dass sich das Furnier leicht löste. Es war nicht sehr problematisch, ich konnte es so gut flicken, dass es kaum sichtbar war. Nur mein Meister, der erkannte es natürlich sofort. Er war sich sicher, dass es auch den Prüfern auffallen würde. Mein Meister empfahl mir daher, das Gesellenstück noch einmal neu zu machen. Stelle dir vor, wie es mir in dem Moment ging. Ich war am Boden zerstört. Der Aufwand war immens, und das alles nur für die kleine Stelle. In dem Bewusstsein, durchaus eine schlechtere Note zu riskieren, entschloss ich mich (gegen den Willen meines Meisters), es nicht neu zu machen. Mit Ausnahme der einen Stelle war tatsächlich alles super gelungen, und ich stellte mich den Prüfern. Wie befürchtet bekam ich keine 1 als Note, sondern eine 2+, aber zusätzlich einen Belobigungspreis, und zwar wegen des außergewöhnlichen Designs. Ich war stolz wie Oskar. Eine 2 war für mich eine fantastische Note. Okay, ich hätte eine 1 erzielen können, jedoch zu welchem Preis, zu welchem Einsatz und zu welchem Nutzen! Was hätte es mir gebracht? Ich war jedenfalls so richtig stolz auf mich. Mein außergewöhnlich designtes Telefonschränkchen wurde noch ein paar Wochen in der Kreissparkasse ausgestellt, trotz des kleinen Fehlers. Den außer meinem Meister und den Prüfern niemand bemerkte. In meinem ganzen Leben hat mich danach auch nie jemand nach der Note in der Abschlussarbeit gefragt.
Wenn ich mich dazu entschlossen hätte, das Gesellenstück komplett neu zu machen, dann hätte ich voraussichtlich die Note 1 bekommen. Nur: Welcher Aufwand wäre damit verbunden gewesen? Ich habe ja trotzdem eine sehr gute und professionelle Arbeit abgegeben. Der Aufwand, den kleinen Fehler СКАЧАТЬ