Название: Cardiff am Meer
Автор: Joyce Carol Oates
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783955102487
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»– du möchtest lieber nicht.«
Die Worte hängen wie eine Herausforderung in der Luft. Lieber nicht.
Bei diesen Worten steht Gerard abrupt vom Tisch auf. Sein Stuhl rutscht hart über den Holzboden.
Er gibt ein Knurren von sich, verachtend, spöttisch. Entblößt gelbliche Zähne in einem erbosten Gesicht. Seine Augen schlingern in ihren Höhlen hin und her, doch er schaut Clare nicht an – er hat Clare nicht ein einziges Mal angeschaut.
Mit seiner linken, gesunden Hand greift er seine Mütze und die gefaltete Zeitung und verlässt polternd den Raum durch die hintere Tür.
Hinterlässt einen Geruch von Asche, ein ungewaschener männlicher Körper, ungewaschenes Haar. Nicht einmal ein kurzer Seitenblick.
Die Großtanten sind wie erstarrt, weit aufgerissene Augen, in Alarmbereitschaft wie ein Vogel Strauß. Aus ihren Mündern zischende Laute, tsss. Clare wundert sich, warum sie nicht dankbar sind, dass ihre Fragerei den mürrischen Mann aus ihrem Blickfeld getrieben hat.
»Oh je! Es tut uns so leid, Clare –«
»Normalerweise ist unser Neffe Gerard nicht so –«
»– grob –«
»– schüchtern. Er fühlt sich unter Fremden nicht sehr wohl –«
»– sogar dann nicht, wenn die Fremden Familienangehörige sind –«
»– zurückgeblieben, menschenscheu –«
»– dickköpfig, stur –«
»– schrecklicher Schock – Trauma –«
»– früher war er gescheit –«
»– so gescheit wie Conor –«
»– nein! – nicht annähernd –«
»– doch. Als er am Priesterseminar anfing –«
»– aber nicht so gescheit wie Conor – nein –«
»– fleißiger als Conor, auf jeden Fall. Und –«
»– gläubig. Gottesfürchtig.«
»Ja, und jetzt behütet Gott ihn –«
»– Das sollte er, ja! Nach all dem, was Gott getan hat –«
»– schhh! Glaubst du, Gott hört das nicht?«
Die Großtanten vertrauen Clare an, dass ihr »Junggesellen-Onkel«, Gerard Donegal, früher einmal Jesuit werden wollte. Er war im Priesterseminar Saint Joseph in Portland, Maine, bis er aus »persönlichen, familiären Gründen« aussteigen und nach Cardiff zurückkehren musste, um mit seinen Eltern zusammenzuwohnen.
Seit dem Tod seines Vaters übernahm er die Rolle des Chauffeurs für seine verwitwete Mutter, in den letzten Jahren musste er sie hauptsächlich zu Arztterminen und zum Gottesdienst in die St. Cuthbert’s Church fahren. Allen rundherum war klar – Gerard war ein äußerst treusorgender Sohn. Er sorgte sich um die Instandhaltung des Anwesens und verdiente sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten in der Nachbarschaft.
Doch stets verfolgte er seine persönliche Pilgerreise, bis heute.
Wirklich? – Clare konnte es nicht glauben. Der gequälte Gesichtsausdruck, die gelblichen Zähne und die abwehrenden Augen passten ihrer Meinung nach nicht zu einer religiösen Geisteshaltung …
»Oh, doch – sehr wohl. Gerard ist zwar kein sehr geselliger Zeitgenosse – wie du sicher gemerkt hast! – aber er ist ein sehr verlässlicher Arbeiter. Er mäht Wiesen, schneidet Bäume, kehrt Laub mit einem richtigen Rechen zusammen, nicht mit solch einem fürchterlichen Laubbläser – nein, mit einem riesigen, riesigen Rechen, wie man ihn gar nicht mehr kaufen kann. Er wird graben, graben, graben, wo immer man es braucht. Er befreit die Zufahrten vom Schnee. Er arbeitet im Regen – im Schnee. Er kann Gebüsche lichten. Er kann Hausdächer reparieren, Kamine. Er kann kaputte Fenster austauschen. Er kann Malerarbeiten erledigen – so gut wie jeder Profi und viel preiswerter. Natürlich kann er auch eine Waffe benutzen – Gewehr, Schrotflinte. Man kann ihn anheuern, um Murmeltiere zu schießen, Waschbären – Schädlinge, die den Garten zerstören. (Gerard schießt aber keine Rehe – obwohl Cardiff überflutet ist von Weißwedelhirschen. Es ist gesetzlich verboten, Rehe innerhalb der Stadtgrenzen zu jagen, aber Gerard wird sie, wenn man ihn darum bittet, wegscheuchen.) Es gibt tatsächlich Damen entlang der Acton Avenue, die sehr von ihm abhängig sind – ›Was täten wir nur ohne Gerard Donegal!‹, sagen sie. Er hatte sich als Neunzehnjähriger im Priesterseminar eingeschrieben, wollte Gott als Priester dienen, und eine ganze Zeit lang war er auch glücklich dort. Seine Mutter war so stolz auf ihn – wir waren alle sehr stolz auf ihn – aber dann …«
»Also – neunzehn war einfach jung –«
»Neunzehn war nicht jung. Nicht für einen Seminaranfänger.«
»Neunzehn war jung, Gerard war einfach zu jung – blauäugig, sagten manche. Zu gottesfürchtig.«
»Was er alles auf sich genommen hat, diese harte Arbeit, Latein zu lernen, sich so sehr zu bemühen, des Priesteramtes würdig zu sein –«
»– gut zu sein –«
»– ein Gefäß, das mit Gott gefüllt werden will –«
»– mit Jesus –«
»– einfach zu viel für den armen Gerard – glauben wir –«
»Und dann – unsere Familientragödie …«
»Der arme Gerard! Alles endete so – abrupt …«
»Ah, was sagst du da? Du meinst, der arme Conor?«
»Conor, Gerard – unsere geliebten Neffen! – Gott sei uns allen gnädig.«
Clare hat aufmerksam zugehört. Sie fühlt sich wie ein Kind inmitten boshafter Erwachsener, die sich unverständlich schnell in einer Art Geheimcode unterhalten. Sie kann die Bedeutung der Worte nicht verstehen. Sie muss mit jeder Faser ihres Seins zuhören. Was wollen die Großtanten ihr sagen?
Clare hört sich selbst mit schwacher Stimme stammeln: »Das – heißt – dann – wohl – dass – sie – nicht mehr – leben? Also, meine Eltern?«
Bestürzte Stille. Elspeth und Morag tauschen schnell einen flüchtigen Blick, antworten aber nicht, so als ob ihre ahnungslose junge Verwandte etwas wirklich Obszönes von sich gegeben hätte.
Selbstverständlich sind deine Eltern tot. Niemand spricht mehr von ihnen.
Was hast du denn geglaubt – dass sie alle diese Jahre gelebt und nur auf dich gewartet haben?
Clare möchte ihre Großtanten gar nicht anschauen, möchte gar nicht sehen, wie sie sie anschauen – mitleidig? mitfühlend? entrüstet?
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