Название: Rost
Автор: Jakub Małecki
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783905951998
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Am nächsten Tag fand Tosia einen Arm. Sie war auf dem Weg zu den Nagórnys, um Molke zu holen, und kickte eine kleine verschrumpelte Kartoffel vor sich her. Sie nagte an ihrem Fingernagel und dachte an den ersten Schultag, der zu Ende gewesen war, bevor er richtig begonnen hatte. Dabei hatte sie so lange darauf gewartet. In der ersten Klasse hatte es ihr sehr gut gefallen, und die zweite sollte angeblich noch besser werden, viel besser, alle sagten das. Vielleicht wäre ja in ein paar Tagen alles wieder normal, vielleicht könnte sie dann, statt mit den Eltern oder den Nagórnys aufs Feld zu gehen, hübsche Sachen anziehen und in der Schule der Lehrerin zuhören. Am Tag zuvor hatte sie Vater gefragt, aber der hatte nur gesagt, das alles sei im Moment nicht wichtig; als würde ihr das irgendwie helfen.
Die Kartoffel rollte nach links und verschwand im fahlen Gras. Sie ging ihr nach und sah den Arm. Er war graugelb, am Ellbogen zerfranst. Die Finger weder ausgestreckt noch zur Faust geballt, eher gekrümmt. An einem Finger ein Ring. Wohl aus Gold.
Der Arm lag am Zaun der Ochyras, neben einem großen Stein, von einem Büschel Disteln verdeckt, vom Weg aus nicht zu sehen. Hätte nicht die Sonne auf dem Ring geblitzt, wäre der Arm vielleicht bis zum Winter nicht gefunden worden. Tosia ging näher heran, bückte sich und hob ihn am Mittelfinger auf. Er war steif. Schwer. Merkwürdig groß, nicht wie ein Arm, wie etwas Totes. Sie hob ihn höher, um die lose Haut am Ellbogen besser sehen zu können, da gellte ein Schrei.
Frau Ochyra schrie. Sie stand ein paar Schritte entfernt, einen Korb Himbeeren in der Hand, mit ihrem Kopftuch, das nie fehlen durfte. Sie schrie. Jesses, schmeiß das weg, Bogdan komm, Jesses Maria!
Reglos sah Tosia sie an. Sie versuchte zu verstehen, was geschehen war. Ihr kam in den Sinn, dass sie vielleicht etwas falsch gemacht hatte.
»Tosia, wirf das weg!« Frau Ochyra war schon bei ihr.
Tosia warf es weg. Sie senkte den Kopf, zuckte die Achseln und begann zu weinen. Die Tränen flossen über die Nase, fielen ab und hinterließen winzige Löcher im Sand. Frau Ochyra drückte sie an sich, gab ihr einen Kuss auf den Scheitel und sagte flüsternd, was alle in letzter Zeit sagten:
»Alles ist gut.«
Am Nachmittag durchsuchten ein paar Männer den Hof der Ochyras, das Feld hinter der verbrannten Scheune, den kleinen Garten mit jungen Apfelbäumen und einen Streifen Gras entlang der Straße. Angeblich fanden sie nichts.
Angeblich, das heißt, nicht sicher.
In Chojny war nichts mehr sicher. Plötzlich war alles anders. Die Leute sahen sich ständig um, abends versammelten sie sich in einem der Häuser, manche flüsterten nur, manche beteten ständig. Alle blickten oft zum Himmel. Nach der Bombardierung ging einige Tage lang fast niemand aufs Feld. Tosia langweilte sich. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Mama oder spazierte die Straße entlang, hin und her. Manchmal mit Gienia von den Budzikiewiczs, manchmal allein, oft mit Michaś, der sich auf ihren Armen wand wie ein Wurm. Als sie auf den Bahngleisen hinter Chojny zwei Bomben sah, wusste sie, sie musste zurück, zu Papa, am besten schnell; aber sie stand nur da und guckte.
Die Bomben waren klein und länglich. Eine lag in einer leichten Vertiefung in der Erde, die zweite zwischen den Schienen. Glatt, glänzend. Sie sahen aus wie etwas, das man als Schmuck auf die Kredenz stellt und nicht auf Menschen wirft, damit es sie zerreißt und bei lebendigem Leib verbrennt. Michaś brüllte und wand sich in ihrer Umarmung, die Bomben interessierten ihn sehr. Auch sie selbst hätte sie gern berührt. Sie betrachtete sie lange, überlegte sich, ob sie kalt oder warm seien, schwer oder eher nicht, ob sie explodieren würden, wenn sie sie anfasste. Schließlich kehrte sie um, flüsterte Michaś zu, er solle endlich den Mund halten, und machte sich auf den Heimweg. Vater und einige andere gingen sofort an den beschriebenen Ort, und sie sah die Bomben nie wieder. Angeblich kamen einige Soldaten, aber sie hatte keine Ahnung, ob es gute oder böse Soldaten waren.
Sie verstand vieles nicht in jener Zeit, alles ringsum wurde immer seltsamer, außerdem hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, bald werde etwas Wichtiges geschehen. Wichtiger als die Flugzeuge am Himmel, die brennende Scheune und die Granaten auf den Gleisen.
Zwei Tage nachdem sie die Bomben gefunden hatte, kam der junge Herr Nagórny zu den Eltern. Er setzte sich an den Tisch, dankte für die Milch, dankte für das Fladenbrot, stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte, verschränkte die Hände und sagte:
»Ich möchte mit den Jungs von der Feuerwehr ein Picknick machen.«
Vater saß an seinem Platz am Fenster und betrachtete ihn. Er biss sich auf die Lippe und zupfte an seinem Schnurrbart, wie es seine Art war. Mama setzte sich daneben, rund und rot im Gesicht. Auf ihrem Kopf standen einzelne Haare ab und glänzten in der Nachmittagssonne.
»Ein Picknick im September?«, fragte sie.
Bugaj fuhr mit den adrigen Händen über den Tisch und erwiderte, ja, genau, im September – wer sollte es ihnen denn verbieten: die Deutschen? Die Flugzeuge? Die Bomben? Er verstummte und schien zu überlegen, ob das gut klang, dann erklärte er schon etwas ruhiger, was, wo, wann und warum.
»Man muss zeigen, dass Chojny keine Angst hat«, sagte er zum Schluss, bedankte und entschuldigte sich und verschwand.
Anfangs wollte niemand an dieses Picknick im September glauben. Die Leute hatten andere Sorgen, zum Beispiel immer seltsamere Gerüchte aus der Stadt, Risse in den Mauern der Häuser und zweiunddreißig Leichen auf dem Friedhof von Grzegorzew. Darunter sechs aus Chojny, und eine Leiche aus Chojny zählte praktisch doppelt. Nagórny und die anderen Jungs von der Feuerwehr waren hartnäckig, sie gingen von Haus zu Haus, luden ein, ermunterten und sammelten Pfänder für die Lotterie, wenn auch nicht viele etwas geben wollten. Tosias Vater erklärte, die Idee mit dem Picknick gefalle ihm gut, und gab seinen besten Hahn her. Auch andere ließen sich langsam überzeugen.
Am 17. September 1939 erschienen auf der Wiese hinter dem Hof der Budzikiewiczs Tische mit Essen darauf, an den Tischen Bänke und unter der Pappel ein Drei-Mann-Orchester: einer mit Ziehharmonika, einer mit Flöte und einer mit Tamburin. Keiner von ihnen konnte gut spielen, aber ihr Eifer war groß und hätte für zehn gereicht. In Eimern mit kaltem Wasser wurden Wein- und Schnapsflaschen gekühlt. Allmählich kamen die Leute zusammen, in Grüppchen; alle fanden sich ein, sogar diejenigen, die trauerten. Tosia schien es, als tanzten gerade sie am meisten, als wollten sie nie eine Pause machen.
Sie kam mit den Eltern und mit Gienia, den sie manchmal mochte, oft aber auch nicht. Zuerst stand sie an der Seite, bei den Tischen, wie die anderen. Später, als alle tranken, sangen und tanzten, setzte sie sich zu Gienia und sah Vater, Mutter und den Nachbarn zu.
Den Unsichtbaren sah sie während einer kurzen Pause zwischen den Tänzen, als die Musikanten an den Tischen ausruhten und die übrigen herumtänzelten, ihre Gläser suchten, sich den Schweiß von der Stirn wischten. Er war anders als alle anderen Jungen und Männer, die sie in ihrem Leben gesehen hatte, denn er war weder Junge noch Mann – er war jemand anderes, als wäre er dort auf der Wiese nur halb. Alle, die sie kannte, taten СКАЧАТЬ