Название: Das entfesselte Wien
Автор: Hugo Bettauer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711503027
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3. Kapitel
Frau sonja gordon
Im Parisien. Immer wenn die Jazzbande mit ihrem Höllenlärm begann, zuckten die Paare von ihren Sitzen auf, glitten in Verkrampfung einher, tanzten bis zum schrillen Schluß, blieben dann stehen, um durch Händeklatschen Fortsetzung zu erzwingen, tanzten weiter.
Die Gesellschaft der Frau Sonja Gordon aber tanzte nicht unten im Parterre, sondern hinter ihrer Loge. Neugierige Blicke flogen von allen Seiten Frau Sonja entgegen, die perlen- und diamantenübersät in halber Nacktheit an der Brüstung saß und sich den Hof machen ließ.
Irgendwoher, irgendwie hatte die europäische Revolutionswelle Frau Sonja Gordon nach Wien geschwemmt. Blendende Schönheit mit rabenschwarzem Haar, fabelhafter Reichtum, fürstliches Auftreten. Ihre russisch-tatarische Abstammung unverkennbar. Der gefallene oder ermordete oder hingerichtete Gatte war angeblich ein Kanadier gewesen, ihr jetzt achtzehnjähriges Töchterchen entstammte erster Ehe mit einem russischen Fürsten. So erzählte wenigstens Frau Sonja, die wenig von sich und ihrer Vergangenheit sprach. Nur betonte sie gerne, daß sie mit vierzehn geheiratet habe, also erst dreiunddreißig sei. Man konnte es glauben oder nicht. Die marmorweiße Schönheit ihres Körpers sprach dafür, die grauen Augen voll Leben und Erleben dagegen.
Die achtzehnjährige Tochter Jutta Oblonski, ein zartes, zierliches Mädchen, sah fein und schön wie ein Meißner-Porzellanpüppchen aus, schien von dem Glanze und dem lauten Treiben ringsumher geblendet und betäubt zu sein und tanzte bedächtig und emsig, als würde es sich um eine Schulaufgabe handeln. Es war das erstemal, daß ihre Mutter sie in ein Nachtlokal mitgenommen hatte.
Neben Frau Sonja saß ein mageres, blondes Mädchen von undefinierbarem Alter. Es konnte zwanzig oder auch dreißig sein. Komtesse Magda Huttwitz stammte aus Sachsen, lebte bei einer alten Tante, der Gräfin Eva Huttwitz, in Wien, man sagte ihr Reichtum und Geist nach. Und außerdem allerlei kleine Absonderlichkeiten. Zum Beispiel ihre fanatische Liebe zu Frau Sonja.
Ob sie erwidert wurde? Ganz Wien tuschelte und flüsterte über Frau Sonja, man erzählte von ihren seltsamen Neigungen, von nächtlichen Orgien, die in ihrer Villa in der Weimarerstraße veranstaltet wurden, aber wenn man den Gerüchten nachging, zerflatterten sie in nichts, wurden ungreifbar.
Ein hagerer Herr mit Habichtsnase, Baron Roch, jetzt nur mehr Herr Roch, Sektionsrat im Ministerium des Äußern, typischer Trottel aus der Monarchie, mit guter Erziehung, machte Frau Sonja eben auf Tod und Leben den Hof. Er war verschuldet und hätte die reiche Frau zu seiner Seelensanierung gut brauchen können. Komtesse Magda Huttwitz verfolgte seine Bemühungen spöttisch, wurde aber unruhig, als sich ein Insasse der Loge, ein hübscher, junger Bursch mit großen, treuherzigen Augen, über Frau Sonja beugte. Magda kannte das, sie ahnte, wie es über die Schultern ihrer Freundin rieselte, wußte, daß dies eine verlorene, qualvolle Nacht für sie bedeuten konnte.
Der wohlbeleibte Bankier Jakob Leier klopfte mit dem Ring auf das Champagnerglas den Takt zum neuesten Shimmy „O Katharina, ich kauf’ mir ein’ Kapuzina“, als eben Paul Mautner die Loge betrat. Frau Sonja wendete sich lebhaft zu ihm, streckte ihm die schneeweiße, langfingerige Hand zum Kuß entgegen, begrüßte ihn so freudig, daß Magda Huttwitz zusammenzuckte.
„Nett, daß Sie sich wieder zeigen! Man erzählt, daß Sie zu den Gerupften gehören?“
„Ist so schlimm nicht,“ erwiderte Paul müde lächelnd, Bankier Leier aber begehrte auf:
„Nicht so schlimm! Das sagt jeder, der, mit Respekt zu vermelden, die Hosen verloren hat! Warum nicht aufrichtig zugeben, was sich auf die Dauer nicht verbergen läßt? Schauen Sie mich an: ich erkläre laut und deutlich, daß ich pleite bin! Ein Glück, daß ich zu Hause in einer Schublade noch ein paar tausend Dollar entdeckt habe, sonst würde ich nicht hier im Parisien sitzen, sondern in einem Haustor fünf Deka Preßwurst essen. Also gestehen Sie, Mautnerchen, daß auch Sie kahl sind.“
Mautner, der seine Wunden zu schmerzhaft empfand, um über sie scherzen zu können, zuckte die Achseln.
„Natürlich, ich habe einen Teil meines Vermögens eingebüßt, aber immerhin, es ist zu ertragen!“
Gab dem Gespräch brüsk eine andere Wendung, ließ sich Jutta vorstellen, die eben brav mit dem hübschen jungen Mann getanzt hatte. Er gab seiner ehrlichen Verwunderung darüber Ausdruck, daß die schöne Frau Sonja eine so erwachsene Tochter habe. Als er die kleine, warme und doch trockene Hand Juttas drückte, entstand eine Welle von Sympathie zwischen ihm und dem jungen Ding, das leicht errötete und ihn halb scheu, halb bewundernd anblickte. Er erwiderte den Blick, erquickte sich an dem taufrischen Anblick dieser Knospe, und das Gesicht Magdas, das ganz finster geworden war, begann sich zu glätten.
Frau Sonja lehnte sich jetzt mit überschlagenen Beinen, deren köstliche Linie man fast bis zum Knie verfolgen konnte, zurück, blies aus einer exotischen Zigarette, die sie von dem türkischen Gesandten bekam, kunstvolle Ringe in die Luft und setzte das unterbrochene Gespräch fort.
„Ich staune, daß kluge Männer, wie Sie es sind, sich mit dem französischen Franc so verspekulieren konnten! Das kommt davon, weil Männer auf ihr Ziel loszugehen pflegen, wie Stiere auf das rote Tuch. Sie alle haben zu wenig Psychologie betrieben, wollen nur von Materie und nichts von Geist wissen. Ich habe auch in Franc spekuliert, aber à la Hausse. Als er in Zürich auf zwanzig stand, habe ich gekauft, so viel gekauft, als ich nur konnte. Warum? Weil ich weiß, wie die Franzosen, auch wenn sie in der Minderheit waren, gegen die Deutschen gekämpft haben, weil ich weiß, was französischer Patriotismus, Sie können es auch Größenwahnsinn nennen, imstande ist. Weil ich genau weiß, daß es in Frankreich keine Frankzerstörer gibt, keinen Stinnes, keinen Menschen, der es wagen würde, offen seinem Vaterland zu schaden. Und ich mir sagte, daß die Franzosen den Franc einfach nicht fallen lassen werden, ebensowenig wie sie Verdun fallen ließen.“
Die Männer schwiegen betroffen und Mautner dachte in sich hinein:
„Statt mit den albernen Kokotten und Theatergänsen hätte ich mit dieser Frau ein Verhältnis haben sollen, dann wäre mir heute wohler.“
Und im Bruchteil einer Sekunde spannen sich seine Gedanken fort, saugten sich an Frau Sonja fest, sahen in ihr die große Möglichkeit, die einzige Rettung. Aber seine Augen folgten nicht seinem Willen, glitten zu der kleinen Jutta hinüber, die ihn groß und fragend ansah. Fast mechanisch rückte er seinen Stuhl zurecht, so daß er dicht neben dem Mädchen saß und dessen weichen, weißen Kinderarm streifte.
Nach Mitternacht brach man auf. Frau Sonja bestieg mit ihrer Tochter und Magda den prachtvollen großen Benz-Wagen, nachdem sie der Freundin gleichmütig gesagt hatte, sie möge bei ihr übernachten. Paul war es, als würden die gelblichen, feuchten Augen der sächsischen Komtesse aufleuchten wie Katzenaugen. Ihn lud Sonja zum Tee für den nächsten Sonntag ein und er nahm gerne an. Der Sektionsrat krähte, daß er noch in die Sacher-Bar, die bis drei Uhr offen halte, gehen müsse und schleppte den jungen, hübschen Mann mit, Mautner und Bankier Leier schlenderten durch die Kärntnerstraße. Leier murmelte unvermittelt: „Der Teufel soll die Börse holen.“ Paul erwiderte ingrimmig: „Hat sie schon geholt.“ Dann verabschiedeten sie sich, jeder mit trüben Gedanken zu sehr beschäftigt, um noch sprechen zu können.
Als Paul Mautner allein war, blieb er stehen und verkrampfte die Hände, um nicht laut aufschreien zu müssen.
Er war fertig, total fertig! Heute hatte er zwei goldene Zigarettendosen und eine Platinuhr verkauft und die paar Millionen СКАЧАТЬ