Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Название: Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)

Автор: Joachim Ringelnatz

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027203697

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СКАЧАТЬ sein Uhrwerk aufgezogen war, sich anmutig zu bewegen. Nicht etwa gleichmäßig. O nein! Er trippelte ein paar Schritte vorwärts, blieb stehen, wendete sich plötzlich oder trat zurück, und auf einmal schlug er ein Rad. Über dieses kostbare Kunstwerk waren die Motten gekommen und hatten die Federn zerstört. Da eine Reparaturwerkstätte dafür in Leipzig nicht zu finden war, wurde der metallene Balg irgendwo verwahrt, wo ich ihn aufstöberte und entführte. Stundenlang lag ich in den nächsten Tagen unter meinem Bett und ging dort in der Verborgenheit mit einem Stemmeisen dem Vogel zu Leibe. Bis ich die zauberhafte Mechanik seines Inneren in Zahnräder, Rädchen, Spiralen, Achsen und Splitter zertrennt hatte. Mir ist, als wären Wolfgang und Ottilie dabei beteiligt gewesen, aber jedenfalls wurde ich von Mutter mit Recht als Hauptschuldiger dem Vater zugeführt. Es war das einzige Mal, daß mich mein Vater schlug. Sonst – zum Beispiel, als er dahinterkam, daß ich teure Lexika meines Bruders heimlich beim Antiquar verkauft und das Geld verjubelt hatte – war sein Verhalten ein anderes, obwohl von mir weit mehr gefürchtet. Ich wurde dann in sein Zimmer gerufen, wo er am Schreibtisch saß. Er begann mit strengen, sachlichen Worten, die, je zerknirschter sie mich machten, immer weicher wurden. Bis ich in Tränen ausbrach, worauf mein Vater seinen Klemmer verlor, meinen Kopf an seine stachlige Backe zog und sich selber Tränen aus den Augen wischte. Mit irgendeiner versöhnlichen und gütigen Betrachtung oder Ermahnung entließ er mich dann. – Wir Kinder liebten »Väterchen« über die Maßen. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, daß ich einmal seinen Tod überwinden würde.

      Wie kam ich nur dazu und warum konnte es niemand verhindern, daß ich in der Schule wie daheim so gar nicht gut tat, immer wieder auf Verbotenes aus war, alberne, eitle Streiche und sogar Roheiten beging? Wie war es möglich, daß ich zum Beispiel längere Zeit hindurch Tiere quälte? Nicht nur, wie die meisten Kinder tun, Maikäfer, Schmetterlinge in unzulängliche Gehäuse einsperrte und sie in plumper Behandlung lädierte oder fallen ließ. Ich riß Fliegen die Flügel aus. Entsetzlich grausam behandelte ich einen Kolbenkäfer aus dem Aquarium meines älteren und verständigeren Bruders. Ich legte den Käfer rücklings auf den äußeren Fenstersims und begoß ihn mit Schwefelsäure, von deren schrecklicher Wirkung ich unterrichtet war. Nie werde ich den Anblick vergessen, wie das Insekt vor Schmerz hochschnellte und vom Sims herab auf die Straße fiel. Aber auch damals schon überkam mich ein Grausen.

      Es war keine Spur von sadistischen Gelüsten in mir. Aber warum quälte ich Tiere? Aus Wißbegierde? Ich spießte Libellen und Schmetterlinge auf, um eine Sammlung anzulegen, wie Onkel Wolfram das mustergültig tat. Aber ich handhabte diesen Sport mit unzureichenden Kenntnissen und Mitteln. Ich wollte Tiere konservieren, setzte eine kleine lebende Schleie in Spiritus, Brennspiritus, der sie rasch betäubte. Aber nachts ließ mir's keine Ruhe. Ich stand auf, entzündete ein Streichholz und beleuchtete das Einmachglas. Wie tief erschrak ich, als die Schleie plötzlich anfing, lebhaft mit dem Schwanz zu schlagen.

      Ganz offensichtliche Gewinnsucht war es, wenn ich im Zoologischen Garten den Strauß oben fütterte und ihm unten gleichzeitig Federn ausrupfte. Oder wenn ich vergeblich das Stachelschwein heranzulocken suchte, um ihm einen Stachel auszureißen, aus dem ich mir einen Federhalter machen wollte. – Als ich einmal das Kamel, da es dicht am Gitter stand, in den Wanst zwickte, machte das Tier – wie um mir eine Lehre zu erteilen – eine geringe Bewegung, durch die mein Zeigefinger zwischen Gitterstab und Kamelbauch eingeklemmt wurde. Noch nicht schmerzhaft, aber immerhin so, daß ich eine Minute lang bedenklich gefangen war.

      Die Ferien hatten uns in die Sommerfrische gebracht. Und ich zählte zehn Jahre, als mein Vater mich und meine älteren Geschwister in Frauenprießnitz in Thüringen taufen ließ. Bei dieser Zeremonie gebrauchte der Pastor eine Art Sahnenkännchen. Über dieses Kännchen und über den ungewöhnlich tief herabhängenden Hosenboden des Küsters brach ich in ein nicht zu unterdrückendes Lachen aus.

      Ferien! Das Wort klang wie Freiheit. Vater nahm uns dann meist nach Thüringen mit. Durch dieses, sein engeres Heimatland, führte er uns in herrlichen Wanderungen. Er wußte dabei ebenso lustig wie spannend zu erzählen, und er kannte die Gegend und ihre Geschichte genau. Auch durften wir uns genügend allein umhertummeln, Wolf gang Steine sammelnd, ich Insekten, Schlangen und Eidechsen fangend, Ottilie Blumen und Beeren pflückend.

      Das einzige Verlockende am Königlichen Staatsgymnasium waren Senfgurken, die der Pedell selber einlegte, und davon er uns gegen geringe Bezahlung verkaufte. Sie zergingen auf der Zunge wie Butter und schmeckten ungleich köstlicher als die gewohnten Mahlzeiten daheim. Obwohl Mutter, wie gesagt, sehr gut kochte. Mit Liebe kochte! Hatten wir Gäste zu Hause, so bekam sie in der Küche vor Eifer und Aufregung eine purpurrote Glanznase.

      Wir Kinder mußten das essen, was die Eltern wählten und mußten im allgemeinen aufessen, was uns aufgelegt war. Wir hatten Lieblingsgerichte, die uns zum Geburtstag beschert wurden. Auf meinem Weihnachtswunschzettel stand einmal »Ich wünsche mir eine lederne Hose und ein Stück Butter«. Ich meinte eine Reithose. Die Butter, ein ganzes Pfund, erhielt ich, durfte sie aber nicht, wie ich das erträumt hatte, auf einmal aufessen.

      Ich verabscheute Linsen. Einst hatte ich nachsitzen müssen und kam um eine Stunde zu spät heim. Nun sollte ich nachessen, und es gab Linsen. Da ich indessen allein im Zimmer war, verteilte ich das Gericht nach allen Seiten. Ein paar Löffel ins Ofenloch, ein paar Löffel hinters Büfett, ein paar zwischen die Sofapolster, und so fort. Auch die tiefen Schnitzereien an unserem eichenen Eßtisch boten Verstecke, um mittags unbeliebte Bissen via Serviette verschwinden zu lassen. Bob, der Dackel, war in dieser Beziehung auch stets auf unserer Seite.

      Wir naschten selbstverständlich gern Süßigkeiten. Zu Ostern schenkte mir der reiche Onkel Karl einen Gigerlstock aus massiver Schokolade. Donnerwetter! – Kostbare Geschenke erhielten wir sonst nur von dem fernen Onkel Martin, der als Kapitän ein Schiff an der chinesischen Küste führte. – Freigebig waren unsere Eltern beide, und wir wurden es ebenfalls.

      Ich wurde auch in der Quinta nicht versetzt, sondern mußte ein neues Jahr dort bleiben. Das hatte den einzigen Vorzug, daß ich von den neuen Klassengenossen zunächst als Älterer respektiert wurde. – Meine Zeugnisse verschlechterten sich.

      Unter Führung des Lehrers unternahm unsere Klasse einen Tagesausflug nach Schkeuditz. In einem Gartenrestaurant kehrten wir ein. Dort stand ein Automat, der eine Henne darstellte, die für zehn Pfennige ein mit Bonbons gefülltes Ei legte. Ein Konpennäler von mir kam auf einen geschickten Betrug. Wenn man nämlich, nachdem der Groschen in den Schlitz gefallen war, hinten in die Henne griff und auf einen gewissen Schnapper drückte, dann konnte man noch gratis weitere Eier erlangen. Mehrere von uns Jungens hatten sich bereits derart bereichert, als ich erst von dem Trick erfuhr. Das wollte ich auch versuchen. Ich warf ein Groschenstück ein, drückte hinten auf den Schnapper. Weil aber ein anderer Schüler in diesem Moment an der Kurbel drehte, wurde mein Finger eingeklemmt, und ich war mit der Hand im Popo der Henne gefangen. Der Wirt mußte gerufen werden.

      »Haben wir den Dieb endlich!« sagte er und versetzte mir eine Ohrfeige. »Wieviel Eier hast du denn schon herausgeholt?«

      »Noch keins – ich wollte nur –«

      Er gab mir Wehrlosem wieder eine Ohrfeige. »Wieviel?«

      »Eins«, log ich, um nur loszukommen.

      (Bums Ohrfeige.) »Wieviel?«

      »Zwei.«

      (Bums Ohrfeige.) »Wieviel?«

      »Noch keins!« rief ich aufheulend. Darauf befreite mich der Wirt aus meiner Lage.

      Eine gute Freundschaft verband mich mit dem Sohn des Universitätsrektors Sievers. Er konnte genau so ein gellendes Kriegsgeheul ausstoßen wie ich. Außerdem mußte ich ihm auf dem Schulweg spannende Geschichten erzählen, die ich immer improvisiert verlängerte, um Sievers recht lange zum Begleiter zu haben. Mein liebster Freund wurde Martin Fischer. Er hatte СКАЧАТЬ