Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen

Автор: Hermann Stehr

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788075831040

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СКАЧАТЬ auf der Leiter und strich die beschädigte Stelle mit gelber Farbe. In meiner wilden Zeit hatte ich den Mann öfter als einmal öffentlich verhöhnt. Man kannte ihn in der ganzen Stadt unter dem Namen Spuck-Beck. Er trug den Kopf krampfhaft nach links gedreht und schielte, wie um dieses Übel wettzumachen, mit beiden Augen stark nach rechts. Vor dem Sprechen zog er jedesmal geräuschvoll den Speichel im Munde zusammen, spuckte, durch die Zähne zischend, aus und setzte dann, ein langes, gedankenvolles »Mm« vorausschickend, polternd ein.

      Als er mich sah, hängte er den langgestielten Maurerpinsel an einen Leitersprossen, schlürfte, spuckte aus und schrie dann: »Mmm, – de Schule schon aus, Jüngla?« Erschreckt richtete ich mein Gesicht zu dem Fragenden empor. Bei dem Wort »Schule« kam ein Gefühl tiefster Hilflosigkeit und Verlassenheit über mich. Meine Augen waren starr auf den über mir Stehenden gerichtet und sahen doch ins Leere hinaus. Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Endlich löste sich der Krampf, und der mühsam zurückgehaltene Jammer brach durch in einem Schluchzen, das den ganzen Körper schüttelte. So floh ich in die Wohnstube und sank, mein Gesicht in die Hände vergrabend, vor einem Stuhle in die Knie. Als gelte es die Rettung aus großer Gefahr, schrie ich nur immer: Ach Gott, o je, o je!

      Hinter meinem Rücken war es eine Weile ganz still. Wann aber fuhr mich mein Vater an, wegen des Gewimmers. Aber ich war doch nicht fähig, mich zu halten, sondern weinte, wenn auch leiser, weiter in meine Hände hinein. Nach einigem Warten sagte mein Vater. Ja. Gut. Essen wir weiter! Hastig setzte das Geklapper der Messer und Gabeln wieder ein; dazwischen schwirrten klingend die Teller; keiner sprach, der Sitte unseres Hauses gemäß, ein Wort. Dann das gemurmelte Tischgebet. Poltern: »Wohl gespeis' ham?« Gesellen und Lehrjungen trappten zur Tür hinaus.

      Eine Weile hörte ich dann nur die Mutter bekümmert atmen. Wein Vater schritt überlegend hinter mir hin und her. Die Uhr pickte sorglos. Die Schritte des Sinnenden wurden kürzer und lauter; endlich blieb er mit einem Ruck stehen und sagte: »Na, ein Junge kniet nich! Steh' auf und sprich, was hast du wieder ausgefressen? Nu!«

      Mit lieben Armen half die Mutter mir Zögerndem auf. »Geh, Kind,« sprach sie dabei gütig, »sag's dem Vater, was dir fehlt oder was es ist.«

      Ich muß wohl einen erbarmungswürdigen Anblick geboten haben mit dem kummerblassen Gesicht, dem stumpfen Blick und der schlaffen Gestalt, durch die die letzten Wellen des Schmerzes in bebenden Stößen fuhren, denn die Stimme meines Vaters war ungewöhnlich sanft, als er ermutigend sprach: »Nun, red' nur, Franz!« Und ich schüttete vor dem Rat dieser beiden treuen Herzen meinen Schmerz aus. Da ich geendet hatte, holte mein Vater, als schöpfe er ihn aus einem Brunnen, mühsam Atem und hielt ihn eine Weile drohend an. Dann platzte er donnernd heraus: »Junge, ist das auch wahr, was du gesagt hast?«

      »Vater, wahrhaftig meiner Leib und Seele, so wahr ich Ministrante bin!« beteuerte ich und sank ihm in die Knie. Da legte sich seine harte, große Hand auf meinen Scheitel und mir war, als wälze sich eine große stumme Last, eine Quader auf mein junges Herz, daß ich vor Bestürzung still war.

      »Pfui«, sagte mein Vater. »Hast du's gehört. Weib? Soll ich das Schnupftuch auch auf den Fleck legen? Das Geschwür stech' ich auf! Keinem hab' ich aufs Bein getreten!«

      Und als meine Mutter doch noch zum Guten reden wollte, schnitt er ihr das Wort ab: »Egal! Es muß ein Ende gemacht sein. Ich schlage an die Tür der Schule, der Pfarre und des Rathauses!«

      Er verließ die Stube und kehrte nicht lange darnach zum Ausgang gerüstet wieder zurück, gab noch diese und jene geschäftliche Anordnung, fragte mich, ob der Pfarrer Zimbal Schulrevisor sei, strich sich vor dem Spiegel den Schnurrbart zurecht und ging mit dem grimmig-lustigen Ausruf: Nu kann's losgehen! von dannen.

      Allein es half nichts. Der Lehrer setzte mich zwar an den alten Platz, blieb aber lieblos, ja abstoßend zu mir. Der Pfarrer zeigte seine Abneigung anders. Im Kommunionunterricht zog er mich auffällig oft zu Antworten heran und erklärte dann mit Erbarmung und Liebe: Ja, ja, armer Faber, lerne, lerne! Sei fleißig im Weinberge des Herrn! Du hast das Licht der Religion und die Gnade Gottes ganz besonders notwendig. Von solchen Worten kam ich mir wie bespien vor, und eine Feindseligkeit gegen den Geistlichen, die meinem frommen Herzen wehe tat, kam in mir auf.

      Selbst von der Kanzel herab warf dieser Gottesmann eines Sonntags seine giftigen Pfeile. Ich saß mit meinem Vater in der Kirche und hörte seiner Predigt über den guten Hirten zu. Er beschäftigte sich mit den Pflichten des Priesters seinen Pfarrkindern gegenüber. So kam er auch auf die »teuflische neuzeitliche Bewegung unter den Kindern der Welt« zu sprechen; diesen »wahren Knappen Belials«. Seine Stimme ward stark, dröhnend; er schlug leidenschaftlich auf den gepolsterten Rand des Predigtstuhles und hob dann beschwörend die Hände gen Himmel.

      »Ha, o der frechen Gemeinheit dieser Gesellen«, rief er etwa. »Denn, wenn durch die Vorsehung Gottes Licht in die verborgenen Höhlen ihrer Seele fällt, wenn treue Christen in der Betrübnis ihres frommen, einfältigen Herzens dieses gottabgewandte Leben an den Pranger stellen und öffentlich, wenn auch geschützt, auf sie weisen, um sich ihrer Bosheit nicht auszuliefern, dann, oh, dann nimmst du, Lästerer, um dich den Mantel der gekränkten Biederkeit und dringst mit harten Worten in die geweihte Klause der Priester des ewigen Gottes.«

      Seine Stimme schnappte über. Es entstand eine Bewegung unter den Zuhörern; viele wendeten die Köpfe nach meinem Vater, dem also Geschändeten. Der reckte sich starr auf. Die Züge seines Gesichtes wurden hart wie Stahl. Dann schoß er zu seiner ganzen Größe auf und heftete einen Augenblick sein Gesicht voll tiefster Verachtung auf den Pfarrer, der nur eine Bankzeile von uns entfernt war und bei dem Anblick des drohend Aufgerichteten erbleichte, weil er fürchten mochte, mein Vater würde sich zu einer Entgegnung hinreißen lassen. Aber der ging, ohne ein Kreuz zu schlagen, erhobenen Hauptes hinaus, und die tausend Augen der Gemeinde schillerten in Schadenfreude hinter ihm her. Mein Herz trieb mich dem Beschimpften nach. An der Stiege, welche von dem Bauernchor in das Schiff der Kirche herunterführte, blickte er sich nach dem scheuen Trippeln um, das seinem Schritt folgte, und eine trauervolle Freude erhellte die Starrheit seines Antlitzes. Am Weihkessel ging er, abgewandten Gesichtes, vorbei. Ich aber griff hinein und besprengte mich mit dem geweihten Wasser. Wie ich mich umwandte und hinausschlüpfen wollte, schrie der Pfarrer Zimbal eben dröhnend: »Auf, tuet euch weit auf, ihr Tore des ewigen Heils, auf daß die Pest des Unglaubens von dir weiche, du gute und sehr gute Herde des göttlichen Hirten!«

      Da wischte ich draußen im Lichte der Sonne das heilige Naß von meiner Stirn, denn ich wollte sein wie mein Vater. Der aber eilte ohne Umsehen weiter und betrat seit diesem Sonntage keine Kirche mehr. Er versuchte auch nicht, den Pfarrer Zimbal wegen Mißbrauches der Kanzel zur Rechenschaft zu ziehen oder wenigstens zu erforschen, wessen geheime Wühlarbeit seit Wochen und Monden seinem Leumund so schadete. Er lebte still und aufrecht hin, nur eifriger tätig als sonst, als sei nichts vorgefallen, was ihn innerlich angehe. Denn es gibt eine tugendhafte Mannesschwäche. Das ist die aus edlem Stolz. Mein Vater besaß sie. Bei diesem Mann der wortarmen Entschiedenheit gab es nichts Dekoratives, nichts Halbes. Jede Tat, ja jede Äußerung bis herab zur Geste sprang mit urwüchsiger Gewalt unmittelbar aus seinem Wesensmittelpunkte. Keinen Vorhalt, kein tastendes Präludium sandte sein Wollen voraus. Bis in den kleinsten Zug fertiggefeilt schob seine verschlossene Seele endlich den Entschluß ans Licht, hart und unwiderruflich. Ihm war die Zähigkeit der Kleinen fremd, dem als recht Erkannten unter kluger Benutzung der Verhältnisse bei seinen Mitmenschen Geltung zu verschaffen. Sein Edelstreben befaß keine Modulation. Verteidigung und Angriff bestanden bei ihm aus einem, dem Hieb. Wohl aus Ehrfurcht vor sich und den Menschen war es ihm unmöglich, mit dem Schmutz und der Verschlagenheit seiner Gegner zu rechnen, denn Gemeinheiten machen den Helden wehrlos aus Ekel.

      Darum kam auch nichts als ein bitteres Lächeln in seine Züge, als einige Tage nach seiner Flucht aus der Kirche die Polizei bei ihm Haussuchung nach sozialistischen und anarchistischen Büchern und Briefen hielt. Mit kalter, verachtungsvoller Höflichkeit geleitete er den Beamten zur Tür hinaus. СКАЧАТЬ