Название: Zwei und zwei
Автор: Tessa Hadley
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701217
isbn:
»Seltsam, nicht wahr, dass diese Männer auch schon lange, lange tot sind: die Männer, die die Maske gemacht haben. Ein Foto ist ja auch eine Art Totenmaske. Ein Foto könnte ich wohl schon von Dad machen. Ein Foto von ihm als Toten. Das wäre leichter. Dann würde meine Mutter nicht so ausrasten. Ich könnte ihn mit meinem Handy fotografieren. Und das Bild später auf Partys schmutzigen Typen zeigen und gucken, ob sie sich davor gruseln. Hey Leute, könnt ihr damit umgehen?«
»Ganz schön gruselig.«
Isobel kochte in der Küche Tee, und als sie mit zwei Bechern zurückkam, hatte Grace die Kissen auf den Boden geworfen und lag mit dem Rücken zu ihr auf dem Sofa, das Gesicht zur Wand gedreht. Isobel stellte den Tee hin, streifte die Schuhe ab und legte sich zu ihr. Sie wusste, dass Grace ins Leere starrte. Als sie ihre Freundin berührte, meinte sie eine Blockade in ihrem Rücken zu spüren, eine Art Damm zwischen den Schulterblättern; irgendeine Kraft, die eigentlich durch Grace hindurch fließen sollte, konnte nicht entweichen und staute sich in ihr auf. Isobel massierte sie sanft, um den Schmerz wegzuzaubern.
Bevor sie am Abend mit dem Essen begannen, schenkte Alex ihnen wieder von dem Stará myslivecká ein, Zacharys Lieblingswodka, und sprach ein paar Worte. Christine starrte auf ihren Teller, die anderen folgten Alex mit ihren Blicken, als wollten sie ihn damit zwingen, die rechten Worte zu finden. Er sagte, Zachary sei ein Mensch gewesen, der immer gewusst habe, wie man etwas richtig anpackt, und nun, da er nicht mehr sei, müssten sie das irgendwie ohne ihn bewerkstelligen, so gut sie eben könnten. Zachary habe die Kunst geliebt, eine Kunst, die nicht stumpfsinnig oder aufgesetzt sei. Er sei ein außergewöhnlich scharfsinniger Mensch gewesen mit einem einzigartigen Traum, in dessen Zentrum die unvergleichliche Garret’s Lane Galerie gestanden habe, mit der Vision einer Kunst, die jedermann offensteht. »Für uns aber«, sagte Alex, »für seine Familie und seine engen Freunde, die hier um diesen Tisch versammelt sind, bedeutet sein Verlust sehr viel mehr, so viel, dass wir es noch gar nicht ermessen können. Ich persönlich würde in seinem Tod gern einen weiteren Beweis für das beschissene oberste Lebensgesetz sehen, das uns immer das Beste nimmt und das Schlechteste bestärkt. Aber wie Zachary nun mal ist, will er mir das irgendwie nicht erlauben. Ich spüre ständig seinen Widerstand und seine Kraft, die zum Guten drängt, und seinen Glauben daran. Und dabei weiß ich gar nicht, wie ich das spüren kann, weil er ja nicht mehr ist.«
Isobel musste weinen und verdeckte ihr Gesicht mit der Serviette, Sandy wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Lydia berührte Alex dankbar am Arm und vergrub kurz ihr Gesicht an seinem Hemd – doch als sie wieder aufsah, waren ihre Augen weiterhin trocken, wachsam und glänzend. An dem Abend waren auch Hannah von der Galerie mit dabei, Zacharys jüngerer Bruder Max und Nathan Kearney, Zacharys und Alex’ alter Freund aus ihrer Studienzeit. Die Gegenwart von Max und Grace hatte etwas Gespenstisches, weil beide so große Ähnlichkeit mit Zachary hatten: der rosige Teint und das drahtige schwarze Haar, der leuchtend rote Mund und die laute Stimme, seine Ausstrahlung von Güte und Kraft. Max aß sogar gierig wie sein Bruder, stopfte sich Brot in den Mund, während er sich Salat auftat; seit Kurzem ließ er sich einen struppigen Bart stehen, wie Zachary, den starken Bart eines Propheten, wenngleich Max in Wirklichkeit nicht die Entschlossenheit seines Bruders hatte; er war überaus empfindlich, nicht entscheidungsfreudig.
Alle aßen etwas von der Lasagne auf ihrem Teller, sie waren tatsächlich hungrig. Beim Geräusch der auf dem Porzellan kratzenden Gabeln und klingenden Gläser war es, als kehrte das vertraute Leben in ihren Kreis zurück, wie angeschlagen und gedämpft auch immer, und sie begannen zu reden. Nathan Kearney, der sie alle seit Ewigkeiten kannte – er arbeitete als Filmkritiker und war manchmal im Fernsehen zu sehen –, war gewöhnlich nicht zu bremsen, konnte aber nicht über Zachary sprechen. Er beugte seinen großen Kopf tief über den Teller, das strähnige Haar hing herunter wie ein Vorhang und verbarg den Ausdruck seines Gesichts, und er beteiligte sich erst wieder am Gespräch, als sie sich auf dem sicheren, trockenen Boden von Kunst und Politik befanden.
Lydia schob den Rest ihres Essens zur Seite.
»Du musst essen«, sagte Alex sanft und besorgt. Er war zuvor in ihrer Wohnung gewesen, um ihr Kleider zum Wechseln und Waschzeug zu holen.
»Ich weiß. Morgen werde ich essen.«
Er legte den Arm um Lydia, zog sie an sich und widmete sich mit der anderen Hand seiner Lasagne, wedelte mit der Gabel, wenn er sprach. Christine war ihm dankbar, dass er die Regie übernahm. Grace hatte, während sie bei Isobel war, etwas Merkwürdiges getan: Sie hatte ihre dicken Locken vollständig abgeschnitten – zum Zeichen der Trauer um Zachary, wie sie sagte –, sodass das seidige Unterhaar zu sehen war, das sich dicht um den Schädel ringelte wie bei einem geschorenen Lamm. Isobel verteidigte Grace standhaft und sagte, das sei doch eine schöne Idee. »Und ich hätte sie sowieso nicht davon abhalten können.«
Lydia bemerkte trocken, es sehe nicht allzu schlecht aus. »Zum Glück hat sie einen wohlgeformten Kopf.«
Grace fragte inzwischen Sandy nach seiner Musik aus, fieberhaft flirtend, mit hektischen roten Flecken auf den Wangen, was ihn in Verlegenheit brachte, weil sie ihm so leid tat. Er war derart entsetzt über das, was passiert war – und über Grace’ nackten Kopf –, dass er seine übliche charmante Selbstsicherheit verloren hatte. Er wollte sich in einem solchen Moment nicht über seine eigenen Erfolge auslassen; immer wieder wanderte sein Blick unbehaglich von Grace fort, er lachte selbstironisch, als sie versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. Grace überforderte ihn. Er mochte sie, konnte aber mit ihrer Verliebtheit nicht umgehen, denn sie war nicht sein Typ: Sie war ihm zu jungenhaft mit ihrer maskulinen Forschheit, er stand auf kultivierte, besonnene Frauen. Sandy selbst sah auf eine geschmeidige und verdrossene Art gut aus, reserviert, als hielte er etwas zurück – vielleicht für seine Auftritte auf der Bühne. Er spielte in einer Band, die ganz groß herausgekommen war. Sandy war berühmt. Nur in seiner eigenen Familie wurde er nicht mit Bewunderung, nicht als Star behandelt.
Nachdem Sandy gegangen war, fiel Grace’ Lebhaftigkeit in sich zusammen. Lydia rief sie in klagendem Ton zu sich, klopfte neben sich aufs Sofa, und Grace legt sich zu ihr, den Kopf im Schoß ihrer Mutter. Jemand stellte die Fernsehnachrichten an. »Ich weiß nicht, ob ich das jetzt ertragen kann«, sagte Christine, aber sie blieb an der Tür stehen, als wäre sie auf dem Weg hinaus. Alex schaute sich immer die Nachrichten an; in ihm lag eine kalte Wut bereit, die auf jeden neuen Skandal ansprang. Sie sahen Bilder von den Ereignissen in Calais, wo verzweifelte Flüchtlinge versuchten, auf Lastwagen aufzusteigen oder im Schutze der Dunkelheit in die Tunnel einzubrechen, um so nach England zu kommen; ein Mann lag auf einem Zugdach, Arme und Beine ausgestreckt. Der Anblick brannte sich Christine in die Seele; das Horrorbild dieser tiefschwarzen Seesterngestalt, dunkel gegen die Dunkelheit – wer war das, was sollte aus ihm werden? – mischte sich in ihrem Bewusstsein mit ihrem eigenen Leid. Doch sie wusste, es war unanständig, den privaten Verlust ihres Kreises mit dieser öffentlichen Schande zusammenzubringen. Ihre Welt war noch in der Trauer privilegiert; Zacharys Tod hatte keine moralische Bedeutung, er war kein Unrecht. Und doch vernichtete er sie alle.
Im Schlafzimmer war es stickig, als Christine sich auszog; sie schob das Dachfenster auf, so weit es ging, und von draußen wehte die heiße Nacht herein, verpestet und grießig. Christine war sich nervös der anderen bewusst, die unten in der voll belegten Wohnung schliefen oder auch nicht schliefen: Lydia im Gästezimmer, Max auf dem Sofa. Die Mädchen waren mit einem Taxi in Isobels Wohnung zurückgefahren. Alex hatte Max auf dem Klappbett in Christines Atelier unterbringen wollen und war überrascht, als er die Tür abgeschlossen fand. Christine hatte den Kopf geschüttelt, als er sie fragte, ob sie wisse, wo der Schlüssel sei. »Max kann doch auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen.«
Sie und Alex lagen im Dunkeln wie Statuen nebeneinander, im Schlafanzug auf dem Rücken, mit ausgestreckten СКАЧАТЬ