Название: Geschichte und Region/Storia e regione 29/1 (2020)
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Geschichte und Region/Storia e regione
isbn: 9783706560993
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Wie facetten- und aufschlussreich eine solche Einzelstudie sein kann, zeigt Peter Andorfer in seinem Beitrag auf.20 Die Grundlage für seine Ausführungen bildet eine überaus außergewöhnliche Quelle, nämlich die Aufzeichnungen des Leonhard Millinger, eines Bauern aus Waidring, einem Tiroler Dorf an der Grenze zu Bayern und Salzburg im Landgericht Kitzbühel. Dieser verfasste Anfang des 19. Jahrhunderts eine „Weltbeschreibung“, in der er in enzyklopädischer Weise Inhalte aus mehreren unterschiedlichen Büchern kompilierte. Indem er seine Quellen dezidiert benennt, ergeben sich seltene Einblicke in das Leseverhalten eines Bauern dieser Zeit. So zeigt sich nicht nur, dass Millinger bestimmte Bücher beziehungsweise Passagen aus Büchern gelesen hat, sondern auch, welche der darin enthaltenen Informationen er als wert erachtete, erinnert zu werden. Die (scheinbaren) Diskrepanzen zwischen den wahrscheinlichen Intentionen der Autoren der Bücher und dem Sinn, den Leser Millinger ihren Texten für sich gab, sind zuweilen beträchtlich. Sie zeigen die bereits angesprochene „Freiheit der Leser*innen“ eindrucksvoll und erinnern daran, wie wichtig die Abkehr von der Vorstellung werkimmanenter Interpretationen in der historischen Leser*innenforschung ist.21
Unterschiedliche Aspekte der Geschichte des Lesens und des Buchwesens werden also in diesem Heft vorgestellt. Sie alle eint die Überzeugung, dass vertiefte Einblicke in die Auswirkungen der Medienrevolution Buchdruck ein besseres Verständnis historischer Gesellschaften und Entwicklungen ermöglichen. Sie offenbaren auch, dass es noch bedeutende Forschungsdesiderate gibt, deren Bearbeitung lohnend wäre – allen methodischen Problemen und Unwägbarkeiten zum Trotz. So wäre Grundlagenforschung notwendig, wie etwa die Generierung verlässlicherer Daten zu Schulwesen und Alphabetisierung vor der Einführung zentralstaatlicher Regelungen, detaillierte Rekonstruktionen der Distributionswege und der Zirkulation von Büchern abgesehen vom offensichtlichen und vielfach bereits gut erforschten Buchhandel22 oder auch Untersuchungen zum Einfluss der Lektürepräferenzen von Weltgeistlichen, denen durch ihr Amt eine Multiplikatorenfunktion zukam. Mikrohistorisch angelegte Untersuchungen könnten hier – eine jeweils geeignete Quellenlage vorausgesetzt – wertvolle Einsichten eröffnen. Weiteren Untersuchungsbedarf konstatiert Daniel Syrovy im Bereich der Zensurforschung. Er regt die eingehende Analyse bislang kaum berücksichtigter Quellenbestände an. Offen bleibt schließlich auch weiterhin die Frage nach den Formen der Aneignung von Texten, die auf den genannten Grundlagenforschungen aufbauen kann.
Michael Span und Ursula Stampfer
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1 Reinhard WITTMANN, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 32011, S. 22. Wittmann übernimmt damit das Urteil von Michael GIESECKE, Als die alten Medien neu waren. Medienrevolutionen in der Geschichte. In: Rüdiger WEINGARTEN (Hg.), Information ohne Kommunikation?, Frankfurt a. M. 1990, S. 75–98, hier S. 76.
2 Johann Christian LOBE, Aus dem Leben eines Musikers, Leipzig 1859, S. 131.
3 Diverse obrigkeitliche Zensurbestrebungen weisen auf ein ausgeprägtes Bewusstsein für diese Wirkmächtigkeit hin. Zur Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks im deutschsprachigen Raum vgl. insbesondere Ursula RAUTENBERG (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, 2 Bände, Berlin 2010.
4 Selbstverständlich setzte die Bedeutung des geschriebenen Wortes nicht erst mit der Erfindung der Druckerpresse ein, doch war es bis dahin nur einem kleinen elitären Kreis zugänglich. War das Lesen lange vorrangig auf den klösterlichen Bereich beschränkt, traten ab dem Hochmittelalter zunehmend auch Adelige, Gelehrte und Bürger als Lesende (und Schreibende) auf. Erst in der Mitte des 14. Jahrhunderts konnte, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Gründung von Universitäten, das „Lesemonopol der Kleriker“ endgültig gebrochen werden. Diese veränderte Lesekultur bildete die Voraussetzung dafür, dass Gutenbergs Erfindung so ungemein folgenreich die Leser*innenund Buchgeschichte verändern konnte. Waren die neuen, meist sehr kostspieligen Druckwerke anfangs nur sehr wenigen vorbehalten, entwickelte die neue Technik schon bald eine ungeahnte Eigendynamik und ermöglichte ab dem 16. Jahrhundert eine Demokratisierung des gedruckten Buches. Vgl. Hans-Martin GAUGER, Die sechs Kulturen in der Geschichte des Lesens. In: Paul GOETSCH (Hg.), Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 27–47, hier insbes. S. 32–38.
5 Silvia Serena TSCHOPP, Umrisse und Perspektiven. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2014), 1, S. 151–165. Der Hinweis auf Chartier findet sich auf S. 156. Zu seinen weiteren umfassenden Überlegungen zu einer Geschichte des Lesens siehe z. B. Roger CHARTIER, Lesewelten. Buch und Lektüre in der Frühen Neuzeit (Historische Studien 1), Frankfurt a. M./New York/Paris 1990, bes. S. 7–24; DERS., The Order of Books. Readers, Autors and Libraries in Europe between the Fourteenth and Eighteenth Centuries, Stanford CA 1994; Guglielmo CAVALLO/Roger CHARTIER, Einleitung. In: DIES. (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M./ New York/Paris 1999, S. 9–57; Roger CHARTIER, The Order of Books revisited. In: Modern Intellectual History 4 (2007), 3, S. 509–519.
6 Neben dem bereits zitierten Beitrag von TSCHOPP, Umrisse und Perspektiven, findet sich ein weiterer rezenter Überblick über die einzelnen Entwicklungslinien der historischen Buch- bzw. Leser*innenforschung und deren Spezifika auch bei Ursula RAUTENBERG/Ute SCHNEIDER, Historischhermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung. In: DIES. (Hg.), Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/ Boston 2015, S. 85–114. Sehr breit angelegt ist der literaturwissenschaftlich fokussierte Überblick von Jost SCHNEIDER, Geschichte und Sozialgeschichte des Lesens und der Lesekulturen. In: Rolf PARR/ Alexander HONOLD (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen, Berlin/ Boston 2018, S. 29–98.
7 TSCHOPP, Umrisse, S. 158 f.
8 Zur Zensur als Institution und Praxis im 18. Jahrhundert vgl. insbesondere Edoardo TORTAROLO, L’invenzione della libertà di stampa. Censura e scrittori nel Settecento, Rom 2011 bzw. DERS., The Invention of Free Press: Writers and Censorship in Eighteenth Century Europe (International Archives of the History of Ideas/Archives internationales d’histoire des idées 219), Dordrecht 2016. Als neues Grundlagenwerk zum Zensurwesen in der Habsburgermonarchie, die auch in diesem Heft stark im Fokus steht: Norbert BACHLEITNER, Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848 (mit Beiträgen von Daniel Syrovy, Petr Píša und Michael Wögerbauer), Wien/Köln/Weimar 2017. Zur Zensur im italienischen Raum vgl. auch Ludovica BRAIDA, Circolazione del libro e pratiche di lettura nell’Italia del Settecento. In: Gianfranco TORTORELLI (Hg.), Biblioteche nobiliari e circolazione del libro tra Settecento e Ottocento. Atti del Convegno di nazionale di studio, Perugia, 29–30 giugno 2001, Bologna 2002, S. 11–37.
9 TSCHOPP, Umrisse, S. 158 f. Ein ganz ähnlicher Fragenkatalog wird auch bei RAUTENBERG/SCHNEIDER, Ansätze, S. 93 f., angeführt.
10 Ein allgemeiner Überblick findet sich z. B. bei Ute SCHNEIDER, Frühe Neuzeit. In: RAUTENBERG/SCHNEIDER (Hg.), Lesen, S. 739–763. Die Leser*innengeschichte des katholisch dominierten Raumes wird in diesem Überblick nur am Rande erwähnt, СКАЧАТЬ