Название: Revolutionen auf dem Rasen
Автор: Jonathan Wilson
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783730704479
isbn:
In dieser Atmosphäre zündete auch Hugo Meisls „Wunderteam“. Die österreichische Nationalmannschaft zeigte bereits in den späten 1920er Jahren eine Aufwärtstendenz. So verpasste sie beim ersten Coupe Internationale européenne, einem von mehreren europäischen Nationalmannschaften ausgespielten Pokal, nur knapp den Sieg. An diesem über 30 Monate zwischen 1927 und 1930 ausgetragenen und im Ligamodus gespielten Turnier nahmen neben Österreich die Tschechoslowakei, Ungarn, Italien und die Schweiz teil, nicht jedoch die Teams von der britischen Insel. Österreich verlor drei der ersten vier Spiele, fertigte dann Ungarn mit 5:1 und den späteren Sieger Italien mit 3:0 ab und wurde mit einem Punkt Rückstand Zweiter. Im Ring-Café war man unzufrieden und plädierte für eine Berufung Matthias Sindelars. Bei Sindelar handelte es sich um einen talentierten, fast schon intellektuellen Stürmer, der für die stark mit dem jüdischen Bürgertum in Verbindung gebrachte Austria Wien antrat.
Sindelar gehörte zu einem neuen Schlag von Mittelstürmern. Er war ein Spieler von solch schmächtiger Statur, dass er den Spitznamen „Der Papierene“ erhielt. Der Hauch von Genie, der ihn umgab, veranlasste einige Schriftsteller zu einem Vergleich seiner Kreativität mit ihrer eigenen: Er hatte ein gutes Gefühl für Timing und Dramaturgie sowie ein Gespür für das Spontane und verfügte über eine ausgefeilte Technik. In der 1978 erschienenen Ausgabe seiner Anekdotensammlung Die Erben der Tante Jolesch schrieb der Schriftsteller Friedrich Torberg, einer der führenden Köpfe der Kaffeehaus-Autoren, über Sindelar: „[E]r verfügte über einen so unglaublichen Variations- und Einfallsreichtum, dass man tatsächlich niemals wissen konnte, welche Spielanlage von ihm zu erwarten war. Er hatte kein System, geschweige denn eine Schablone. Er hatte – man wird diesen Ausdruck gestatten müssen – Genie.“
Hugo Meisl dagegen hatte seine Zweifel. Er ließ Sindelar zwar 1926 im Alter von 23 Jahren in der Nationalmannschaft debütieren. Doch obwohl Meisl zu den Vorreitern einer neuen Auffassung von Fußball gehörte, war er tief in seinem Herzen konservativ geblieben. Was auch immer er in taktischer Hinsicht tat, erinnerte an die Glasgow Rangers von 1905, deren Stil er auf nostalgische Art und Weise wiederzubeleben versuchte. Meisl bestand auf einem von Kombinationen geprägten Passspiel, ignorierte den Trend zum dritten Verteidiger und war der Überzeugung, dass ein Mittelstürmer vor Kraft strotzen sollte – ähnlich wie Uridil.
Matthias Sindelar, der „Papierene“.
Auch wenn Uridil und Sindelar beide Söhne mährischer Einwanderer waren, beide in Vororten Wiens aufwuchsen und beide zu Stars wurden – auch Sindelar spielte in einem Kinofilm mit und besserte sein Gehalt als Fußballer durch Werbung für Armbanduhren und Milchprodukte auf –, hatten sie ansonsten doch nur wenig gemeinsam. Im Gegensatz zum zerbrechlichen Kreativgeist Sindelar galt Uridil als „Tank“, der sich dank seiner Körperkraft im Spiel durchsetzte.
1931 gab Meisl dem öffentlichen Druck schließlich nach, berief Sindelar und machte ihn zum Stammspieler der Nationalmannschaft. Die Wirkung war außerordentlich. Am 16. Mai 1931 besiegte Österreich die schottische Auswahl mit 5:0. Zwar traten die Schotten ohne Spieler der Rangers oder Celtics an, hatten sieben Debütanten in ihren Reihen und verloren aufgrund einer Verletzung frühzeitig Daniel Liddle. Zudem war Colin McNab nach einem Schlag an den Kopf gegen Ende der ersten Halbzeit nur noch physisch anwesend. Dennoch ließ der Daily Record keinen Zweifel daran, was er vor Ort hatte miterleben dürfen. „Deklassiert!“, hieß es in dicken Lettern. Nur die Heldentaten von Torhüter John Jackson hatten eine noch schlimmere Demütigung verhindert.
Zwei Tage zuvor war auch England in Paris von Frankreichs Elf mit 2:5 nach Hause geschickt worden. Somit markiert diese Woche aus heu tiger Sicht einen Meilenstein. Nun war offensichtlich geworden, dass die übrige Welt Großbritannien fußballerisch eingeholt hatte – auch wenn das britische Zeitungen und Fußballfunktionäre natürlich immer noch anders sahen. Die Arbeiter-Zeitung fing die Stimmung perfekt ein. „War es elegisch, den Abstieg eines Ideals, das die Schotten bis gestern für uns gewesen sind, sehen zu müssen, so war es umso erquickender, Zeuge eines Triumphs zu sein, der einer wirklich künstlerischen Leistung entsprach“, schrieb sie. „Elf Fußballer, elf Professionals – gewiss, es gibt noch wichtigere Dinge in der Welt, aber es ist schließlich doch ein Dokument wienerischen Schönheitssinnes, wienerischer Fantasie und wienerischer Begeisterung.“
Doch das „Wunderteam“ fing gerade erst an. Es spielte ein traditionelles 2-3-5, hatte in Josef Smistik einen eleganten Mittelläufer und mit Sindelar einen unorthodox auftretenden Mittelstürmer, der ein solch flüssiges Kombinationsspiel ermöglichte, dass das System als „Scheiberln“ bzw. im Englischen als „Danubian Whirl“, also Donauwirbel, bekannt wurde. Mit dem Scheiberln gewann Österreich neun der folgenden elf Spiele bei zwei Unentschieden. Man erzielte dabei 44 Tore und gewann 1932 die zweite Auflage des Europapokals der Nationalmannschaften. In den Kaffeehäusern herrschte Jubelstimmung: Ihre Lebensart hatte sich durchgesetzt, und das hauptsächlich wegen Sindelar, einem Spieler, der in der ihnen eigenen, romantisierenden Sichtweise das fleischgewordene Kaffeehaus war. „Er spielte Fußball, wie ein Meister Schach spielt: Mit weiter gedanklicher Konzeption, Züge und Gegenzüge vorausberechnend, unter den Varianten stets die aussichtsreichste wählend“, schrieb der Theaterkritiker Alfred Polgar in seinem Nachruf in der Pariser Tageszeitung, einem wegen seiner Verknüpfung so vieler grundsätzlicher Aspekte sehr bemerkenswerten Artikel.
Der angesprochene Nachruf enthielt zunächst die Analogie zum Schach, die auch Galeano zur Beschreibung der Uruguayer in den 1920er Jahren verwendet hatte und die Anatolij Selenzow im Zusammenhang mit Walerij Lobanowskyjs Dynamo Kiew später ebenfalls gebrauchen sollte. Außerdem wurde der Einfluss Jimmy Hogans und seiner Besessenheit mit der sofortigen Ballkontrolle spürbar, als Polgar nämlich fortfuhr: „[Er war] ein Fallensteller und Überrumpler ohnegleichen, unerschöpflich im Erfinden von Scheinangriffen, denen, nach der dem Gegner listig abgeluchsten Parade, erst der rechte und dann unwiderstehliche Angriff folgte.“
Vielleicht am bemerkenswertesten ist jedoch, dass Polgar die Gedanken des Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould über die „Allgemeingültigkeit der Exzellenz“ vorwegnahm. „Ich bestreite die Unterschiede gar nicht, die es bei Stil und Inhalt zwischen sportlicher und gewöhnlicher wissenschaftlicher Leistung gibt“, so vermerkte Gould, „doch liegen wir gewiss falsch, wenn wir den Sport als einen Hort animalischer Instinkte betrachten. … Der Erfolg der größten Athleten kann nicht allein aufgrund ihrer körperlichen Gabe zustande kommen. … Eines der faszinierendsten und unbestreitbaren Merkmale großer sportlicher Leistung liegt in der Unmöglichkeit, bestimmte zentrale Fähigkeiten mit gezielter Überlegung zu steuern. Die notwendige Handlung gewährt ganz einfach nicht genügend Zeit für aufeinanderfolgende bewusste Entscheidungen.“ Und Polgar schrieb über Sindelar: „Er hatte sozusagen Geist in den Beinen, es fielen ihnen, im Laufen, eine Menge Überraschendes, Plötzliches ein, und Sindelars Schuss aufs Tor traf wie eine glänzende Pointe, von der aus der meisterliche Aufbau der Geschichte, deren Krönung sie bildete, erst recht zu verstehen und zu würdigen war.“
Im Dezember 1932 kam es zur bis dahin größten Bewährungsprobe des „Wunderteams“: England. England stellte bei Weitem nicht die beste Mannschaft der Welt, stand als Mutterland des Fußballs aber weltweit weiterhin in hohem Ansehen. Zudem war England zu Hause gegen nicht-britische Gegner noch ungeschlagen. Zwar hatte Spanien 1929 Englands Verwundbarkeit durch einen Sieg in Madrid offengelegt. Zwei Jahre später wurde es in Highbury, London, jedoch mit 7:1 vom Platz gefegt. Beflügelt durch den Sieg gegen Schottland waren viele Österreicher indessen äußerst hoffnungsfroh. Der stets zum Pessimismus neigende Meisl allerdings machte sich Sorgen und wandte sich an seinen alten Freund und Mentor Jimmy Hogan.
Von England enttäuscht, war Hogan 1921 in die Schweiz gezogen und hatte dort drei Jahre lang die Young Boys Bern und später den FC Lausanne-Sport trainiert. Danach ging er zurück nach Budapest und war beim СКАЧАТЬ