Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
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Название: Revolutionen auf dem Rasen

Автор: Jonathan Wilson

Издательство: Bookwire

Жанр: Сделай Сам

Серия:

isbn: 9783730704479

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СКАЧАТЬ Kickern.

      Der seit den 1920er Jahren entstandene argentinische Stil wurde immer spektakulärer. Er wurde später La Nuestra, „die unsere [Spielweise]“ genannt, und hatte seine Wurzeln in der Viveza criolla, der „hispano-amerikanischen Gewitztheit“. Der Begriff selbst scheint sich nach einem 3:1-Sieg der Argentinier über eine englische Elf im Jahr 1953 in der Öffentlichkeit verbreitet zu haben: Wie man hätte sehen können, konnte La Nuestra, also „unser Stil“, den der Gringos besiegen (auch wenn es sich strenggenommen nur um einen Schaukampf und nicht um ein richtiges Länderspiel gehandelt hatte). Der argentinische Fußball dieser Zeit lebte von seiner Freude an der Offensive. Zwischen September 1936 und April 1938 gab es in der argentinischen Meisterschaft kein einziges torloses Unentschieden. Nichtsdestotrotz waren Tore nur ein Aspekt.

      In einer vielzitierten Anekdote aus seinem Roman Sobre héroes y tumbas, zu Deutsch: Über Helden und Gräber, erörtert Ernesto Sabato den Geist von La Nuestra. Dabei berichtet die Figur des Julien d’Arcangelo dem Helden namens Martín von einem Vorkommnis, an dem zwei von Independientes Innenstürmern der 1920er Jahre, Alberto Lalín und Manuel Seoane – die die Spitznamen La Chancha und El Negro trugen –, beteiligt waren. Diese beiden wurden als die Verkörperung der zwei verschiedenen Denkschulen des Fußball gesehen. „Eines Nachmittags sagte El Negro während der Halbzeitpause zu Lalín: ‚Spiel mir die Flanke zu, Mann, und ich kann nach vorne stürmen und ein Tor schießen.‘ Die zweite Halbzeit beginnt, Lalín flankt, natürlich bekommt El Negro den Ball, stürmt vorwärts und trifft. Seoane kommt mit ausgebreiteten Armen zurück, läuft auf Lalín zu und ruft: ‚Siehst du, Lalín, siehst du?‘ Lalín antwortet ihm: ‚Ja, aber mir macht das keinen Spaß.‘“ Diese Anekdote verkörpert anschaulich das Grundproblem des argentinischen Fußballs.

      Von der Bedeutung her standen Tricks und Unterhaltung schließlich sogar in Konkurrenz zum Sieg. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte es in Großbritannien dieselbe Debatte gegeben: Sollte man weiter auf die „richtige Art“ spielen, also dribbeln (wenn auch längst nicht so spektakulär wie später in Argentinien), oder sich jenen Stil aneignen, mit dem man Spiele gewann? In den 20 Jahren der internationalen Isolation gab es nur wenige Spiele gegen Mannschaften von außerhalb Argentiniens, die Niederlagen und ein taktisches Umdenken hätten bringen können. Folglich kam es zu einer Blütezeit dieser unbändigen Spielweise. Vielleicht hätte sie dem argentinischen Fußball langfristig gar nicht gut getan. Solange sie anhielt, war sie allerdings die reinste Freude.

      KAPITEL 3

       Der dritte Verteidiger

      Zur nachhaltigen Faszination des Fußballs gehört unter anderem die Ganzheitlichkeit des Spiels. Eine kleine Veränderung auf einem Teil des Platzes kann an anderen Stellen ebenso unerwartete wie drastische Folgen haben. Als die britischen Fußballverbände das International Board 1925 von einer Lockerung der Abseitsregel überzeugten, war dies die Reaktion auf eine schon länger anhaltende Torflaute. Notts County hatte die Abseitsfalle eingeführt, und bald beherrschten diese auch weitere Vereine – insbesondere Newcastle United mit dem Verteidigerpaar Frank Hudspeth und Bill McCracken – so gut, dass praktisch nur noch auf einem schmalen Streifen beiderseits der Mittellinie gespielt wurde. Mit Newcastles 0:0 beim FC Bury im Februar 1925 war das Maß voll. Mit diesem Ergebnis hatten die Magpies in jener Saison bereits das sechste torlose Unentschieden erreicht. Gleichzeitig fielen in der Saison insgesamt nur 2,58 Tore pro Spiel, für damalige Verhältnisse unglaublich wenig. Der Fußball war langweilig geworden, die Zuschauerzahlen sanken. Die FA kam ausnahmsweise einmal nicht nur zu der Erkenntnis, dass etwas unternommen werden musste – sie unternahm auch tatsächlich etwas.

      Die Abseitsregel hatte seit 1866 nur geringfügige Änderungen erfahren. Sie schrieb vor, dass das Abseits für einen Angreifer dann aufgehoben war, wenn sich mindestens drei gegnerische Spieler zwischen ihm und dem Tor der anderen Mannschaft befanden. Nun aber reagierten die Funktionäre auf den zunehmenden Einsatz der Abseitsfalle. Ein Beispiel für einen solchen Einsatz findet sich in der Partie zwischen Schottland und England im Hampden Park im April 1906. Nachdem sich der linke Außenläufer Harry Makepeace verletzt hatte, zog Englands Kapitän S.S. Harris (Corinthians) nicht wie sonst üblich einen der Stürmer auf die Läuferreihe zurück, sondern verschob Linksverteidiger Herbert Burgess nach vorne und ließ mit einer hohen Abseitslinie spielen. Rechtsverteidiger Robert Crompton stand tief und kümmerte sich um lange Bälle und Durchbrüche. Der Rest der Mannschaft rückte bis auf etwa 20 Meter vor die schottische Torlinie vor und schnürte die Schotten quasi vor dem eigenen Tor ein.

      „Nachdem Harris alle informiert hatte, dass man auf Sicherheit spielen wolle, wurde die Begegnung zu einer Farce“, schäumte der Schreiber eines zeitgenössischen Berichts, zitiert in Brian James’ Buch England v Scotland von 1970. „Das Publikum nahm die Änderung am vorderen Teil wahrhaft übellaunig auf. Es reagierte verdrossen darauf, dass Crompton hinten stand, die englische Abwehr sich unter die schottischen Stürmer mischte und diese dann in schöner Regelmäßigkeit keine 20 Meter vor ihrem eigenen Tor ins Abseits stellte.“ Zwar verloren die Engländer trotzdem mit 1:2, doch der Aufschrei im fußballerischen Establishment ließ nicht lange auf sich warten. „Das Spiel mit einem Verteidiger, wie es seitens der Engländer praktiziert wurde, gilt im Vereinsfußball immer als verwerflicher Zug“, hieß es in einem anderen Bericht. „Dennoch bleibt auch bei einer Nationalauswahl die Frage offen, ob es von sportsmännischem Verhalten zeugt, wenn man auf einen solchen Akt der Verzweiflung zurückgreift, um die Zahl der Treffer niedrig zu halten.“ Harris, der England in allen drei 1906 bestrittenen Spielen als Kapitän aufs Feld geführt hatte, lief nie wieder für sein Land auf. Im Jahr darauf wurde die Abseitsregel dahingehend geändert, dass kein Spieler mehr in der eigenen Hälfte im Abseits stehen konnte.

      Doch nachdem die Idee der Abseitsfalle erst einmal in der Welt war, ließ sich das Rad nicht mehr zurückdrehen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fand die List zunehmend Verbreitung. Die Verteidiger Herbert Morley und Jock Montgomery, die zusammen bei Notts County spielten, waren darin Pioniere. Doch am meisten wurde die Abseitsfalle mit dem erwähnten Bill McCracken in Verbindung gebracht. Zeitgenössische Cartoons zeigen ihn frohlockend in die Hände klatschen, weil er wieder mal einen Abseitspfiff zu seinen Gunsten bekommen hat.

      Heutzutage denkt man beim Begriff Abseitsfalle eher an Arsenal zu Zeiten von Trainer George Graham, und es erscheinen Bilder der Viererabwehrkette vor dem geistigen Auge, wie sie perfekt auf einer Linie die Arme nach oben reißt. Vor 1925 funktionierte die Abseitsfalle allerdings nach völlig anderen Grundregeln, weil die beiden Verteidiger, wenn überhaupt, nur selten auf einer Linie spielten. Hauptvertreter dieses gestaffelten Systems waren West Broms Jesse Pennington und Blackburns Bob Crompton, die vor dem Ersten Weltkrieg erstaunliche 23-mal gemeinsam für England spielten. „Während Crompton ein gutes Stück nach hinten geht, rückt der Mann von West Bromwich auf dem Feld weiter nach vorn – mitunter ein ganz beträchtliches Stück, bis er die Erscheinung eines vierten Läufers abgibt“, erklärte Stürmer Charlie Wallace von Aston Villa. „Ihm eigen ist die verwegene Spielweise eines Abwehrmannes. Obgleich dieses Vorrücken mitunter bedeutet, dass er einen schnellen Lauf tun muss, um einen Spieler abzufangen, ermöglicht es im Zusammenwirken mit der Sicherheitstaktik Cromptons dem Duo doch häufig, einen Angriff bereits an seinem Ausgangspunkt zu unterbrechen. Denn Pennington befindet sich dann an dem Ort, wo ihn der Stürmer am wenigsten erwartet.“

      Die Abseitsregel, die drei verteidigende Spieler vorschrieb, damit ein Angreifer nicht im Abseits stand, hatte zur Folge, dass die Angreifer ihr Stellungsspiel an dem weiter vorne stehenden Verteidiger ausrichten mussten, während der zweite Verteidiger folglich als Ausputzer agieren konnte. Newcastles McCracken hatte über die Jahre zahlreiche Partner, von denen der erwähnte Hudspeth der bekannteste war. „Natürlich bekomme ich zu hören, dass McCrackens Methode dem Fußball nicht gut tut, verdirbt sein Einfallsreichtum doch nicht eben wenige Partien“, schrieb Hudspeth in einer Verteidigung der Abseitsfalle im Sheffield Telegraph and Star Sports Special. „Doch genau hier liegt der Fehler. Es sind nicht die Methoden СКАЧАТЬ