Sag jetzt nichts, Liebling. Hanne-Vibeke Holst
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Sag jetzt nichts, Liebling - Hanne-Vibeke Holst страница 8

Название: Sag jetzt nichts, Liebling

Автор: Hanne-Vibeke Holst

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Therese-Trilogie

isbn: 9788726569582

isbn:

СКАЧАТЬ Mama mir ins Ohr geflüstert hat, haben mich dazu gebracht, etwas von der Anspannung abzubauen. Inzwischen gehe ich davon aus, nun doch nicht auf der Liquidierungsliste zu stehen. Nicht einmal Paul kennt meine heimliche Beunruhigung und meine Furcht, nicht bestehen zu können. Ich habe meine geheimen Kämmerchen, genau wie er seine. Ich rufe den Sender von einer Zelle in der Eingangshalle aus an, räuspere mich und lege mir ein paar neutrale Sätze zurecht.

      »Na, was ist, hast du inzwischen gelernt, einen Schlips zu binden?« fragt Big Mama, als ich endlich zur Redaktion durchgekommen bin. Ich teile ihr meine Absage mit, und sie kann gerade noch verärgert mit der Frage reagieren: »Da ist doch nicht schon wieder was zu Hause passiert?«, bevor ich sie über die Lage informiere und sie darauf mitfühlendes Verständnis zeigt.

      »Hattet ihr ein enges Verhältnis, dein Vater und du?« fragt sie.

      »Nun ja«, antworte ich. »Wir haben uns nicht besonders oft gesehen.«

      »Deshalb kann es trotzdem eng sein. Ich habe erst gemerkt, was für eine enge Beziehung ich zu meinem Vater hatte, als er tot war. Ich habe danach ein ganzes Jahr nicht ruhig geschlafen! Achte darauf, daß du dich richtig verabschieden kannst! Und wer hält deine Hand?«

      »Das tue ich selbst«, erwidere ich und stecke meinen letzten Zehner in den Schlitz.

      »Aber Tes! Das geht doch nicht!« protestiert sie.

      »Ich habe zwei Hände«, erkläre ich und beende das Gespräch. Sonst endet es noch damit, daß sie selbst hier angestiefelt kommt – Aalborg hin oder her. Man nennt sie schließlich nicht umsonst Big Mama.

      Die Krankenschwester steht über meinen Vater gebeugt und tupft seine Stirn mit einem Tuch ab.

      »Er hat ein bißchen kalten Schweiß«, sagt sie und wischt ihm auch die Mundwinkel ab, in denen etwas Spucke zu sehen war. Das ist etwas Neues gegenüber vorhin, denke ich. Ich finde auch, daß er viel blasser geworden ist, ganz fahl, aber vielleicht ist es auch nur der Kontrast zu ihrer gesunden Sommerfarbe, der plötzlich so kraß auffällt.

      »Wir haben ihn gestern rasiert«, sagt sie und legt das Tuch hin. »Aber ich denke, heute lassen wir ihn in Ruhe, nicht wahr?«

      Ich nicke. Mir fällt ein Bild ein: Ein kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt, ist im Nachthemd von zu Hause weggelaufen. Ich will zum Tivoli, komme aber nur bis zum Milchgeschäft an der Ecke, wo Frau Iversen mich einfängt und mich heulend nach Hause schleppt. Auf dem Treppenabsatz vor unserer Tür steht er, in Pyjamahose und Unterhemd, mit blitzenden gelben Wolfsaugen und einer Maske aus weißem Rasierschaum. Die Zähne sind wie zu einem wütenden Biß entblößt. Mein Schreien, das jäh zerschnitten wird, die Hitze im Unterleib und die rinnende Wärme, als ich mir in die Hosen pinkle. Seine bärenstarken Gorillaarme, die mich hochheben und ins Bett stecken. Der parfümierte Duft nach Rasierschaum, wie eine Scherbe in der Nase, das phlegmatische Schweigen meiner Mutter und mein Weinen, das unter der Decke hinter der geschlossenen Tür wieder hervorbricht. Niemand tröstete mich, bis Mutter und Vater gegangen waren, Tante Mo endlich kam und ich mich schließlich schluchzend an ihrem frisch gebügelten Hemdblusenbusen ausweinen durfte. Erst als er spätabends heimkam, aufgemuntert von einer Vernissage und mit einem Dunst von Rotwein um sich, als er einen Apfel aus der Manteltasche zog und ihn auf meinen Nachttisch legte, da glaubte ich, daß ich doch nicht für alle Zeiten verstoßen war.

      »Klingeln Sie nur, wenn etwas ist«, sagt die Krankenschwester auf ihrem Weg hinaus. Ich nicke und setze mich auf den Stuhl, falte die Zeitung auseinander und überfliege die Nachrichten. Ich habe mich bereits so weit auf meinen eventuellen Job eingestellt, daß ich nach relevanten Blickwinkeln suche, nach Hintergründen und Zusammenhängen in der Flut der Nachrichten, die vielleicht später bearbeitet und zu interessanten Magazinbeiträgen werden können. Deshalb habe ich entgegen meinen Gewohnheiten damit begonnen, schon gleich nach dem Lesen auszuschneiden und zu sortieren, so daß ich mein ganz privates Archiv habe. Natürlich weiß ich genau, daß unsere Ressourcen nicht die Tagesordnung bestimmen können, wir werden in hohem Grad vom Markt definiert – was bieten die großen Networks, welches Team ist schon wo gewesen, was können wir billig kriegen und dennoch so herausputzen, daß es aussieht wie eine Eigenproduktion? Ich habe keine Schere, hole jedoch einen Kugelschreiber zum Markieren heraus und blättere zu den Auslandsseiten. Sie werden vom NATO-Angriff auf die bosnisch-serbischen Stellungen dominiert, und auch wenn es sicher primitiv oder oberflächlich ist, so teile ich allmählich das verbreitete »go-get-them«-Gefühl. Weder die Moslems noch die Kroaten sind reine Unschuldslämmer, aber meine reisenden Kollegen in Sachen Krieg sind mit wenigen Ausnahmen alle der Meinung, daß die Serben zweifellos die größten Aggressoren sind, die bestialischsten Barbaren und die größten und skrupellosesten Lügner.

      »Die müssen zum Frieden gebombt werden«, wie mein desillusionierter Kollege in der Redaktion es ausdrückt. Er ist jetzt drei bis vier Jahre lang zwischen dem Sender und der jeweils spektakulärsten exjugoslawischen Front hin und her gependelt und nach eigener Aussage »fed up«. Seine Partnerschaft ist zerbrochen, sein Zigarettenverbrauch hat sich verdoppelt, und seine Scherze sind immer zynischer geworden, dennoch kommt er nie ohne Paß und kugelsichere Weste zur Arbeit. Allzeit bereit.

      »Was willst du tun, wenn der Krieg zu Ende ist?« habe ich ihn eines Tages gefragt, als er sich wieder einmal auf eine Abreise vorbereitete. »Dann finde ich einen anderen Krieg«, erwiderte er finster. »Du endest noch wie Jan Stage«, kommentierte die Produktionsassistentin. »Ja? Das ist mein größtes Ziel!« grinste er und schlug sich den Kragen seiner Lederjacke bis zu den Ohren hoch.

      Ich weiß nicht, wie viele er schon hat sterben sehen. Ich weiß nicht, über wie viele Leichen er bereits geschrieben hat. Über wie viele Perversionen er sich erbrochen hat oder sie mit dem Whisky der Hotelbar hinuntergespült hat. Aber ich weiß, daß der Tod plötzlich nicht mehr der abstrakte Begriff in einem Zeitungsartikel, in der Bezifferung des Tages-, Wochen- oder Monatsverlusts ist, sondern einem sehr nahe kommt, wenn man ganz dicht bei ihm auf einem Stuhl in einem Einzelzimmer sitzt. Ich ertrage die nüchterne Beschreibung der Strategie der NATO und ihrer wahrscheinlichen Bombenziele nicht. Ich ertrage das grobkörnige Foto von beladenen Jagdbombern nicht, die vielleicht genau in diesem Augenblick dabei sind, serbische Stellungen zu bombardieren. Ich ertrage das plötzlich mir vor Augen tretende Bild von rotem, pulsierendem Blut auf lehmiger Bergerde nicht, das des unrasierten Soldaten, der mit einer Kippe zwischen den Lippen getroffen wurde, das des Hemds, das hochgerutscht ist, und die glatte Haut, die im Fallen bloßgelegt wurde. Apocalypse now. O Scheiße ...

      Ich zucke zusammen, als sich eine Fliege plötzlich von ihrem Stützpunkt hinter der dottergelben Gardine erhebt, schwer und metallisch blinkend, surrt sie gegen die Scheibe.

      »O Scheiße!« wiederhole ich laut, falte die Zeitung zusammen und gebe dieser ohnmächtigen Wut nach, die plötzlich in mir wächst, als ich mich auf die Fliege stürze. Sie weicht aus, ich schlage von neuem zu. Sie weicht aus, ich schlage wieder zu. Fest, hartnäckig und vergeblich, bis ich sie in eine Ecke gedrängt habe und endlich zerquetschen kann. Ich drehe mich um, mit heißen Wangen und dem kribbelnden Gefühl, daß mein sterbender Vater die Augen geöffnet hat und mich jetzt vorwurfsvoll ansieht. Weil ich ihn geweckt habe. Aber er liegt noch genauso still und unbeweglich da wie zuvor, und ich lasse mich auf den Stuhl fallen, wo ich von dem unbändigen Drang nach Schlaf übermannt werde. Also werfe ich ihm noch einen Blick zu und erlaube mir selbst dann zwei Minuten mit geschlossenen Augen. Nur zwei Minuten. Er wird mir doch nicht in den nächsten zwei Minuten wegsterben. Ich erwache mit einem Ruck, als eine Pflegerin mit dem Essenswagen hereinschaut.

      »Möchten Sie das Essen haben?« fragt sie. »Sie können ja seine Portion kriegen.«

      Ich schüttle den Kopf und richte mich auf. Mittagessen! Die Uhr zeigt Viertel nach elf. Ich habe fast zwei Stunden geschlafen. »Lassen Sie es einfach stehen, wenn Sie nichts essen möchten«, fährt sie unbeeindruckt von СКАЧАТЬ