Название: Lange Schatten
Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein Fall für Gamache
isbn: 9783311701279
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Es war das erste Mal, dass er Julia Martin etwas sagen hörte, das nicht freundlich oder nett war. An den Worten lag es jedoch nicht, sie waren neutral. Der Ton war verräterisch.
Er war voller Angst.
Sie kehrten zum Manoir Bellechasse zurück, und als Gamache Julia Martin die Tür aufhielt, fiel sein Blick erneut auf den Marmorblock am Waldrand. Er konnte nur eine Ecke davon sehen, aber plötzlich wusste er, woran er ihn erinnerte.
An einen Grabstein.
3
Pierre Patenaude drückte die Schwingtür zur Küche in dem Augenblick auf, als drinnen lautes Gelächter ertönte. Kaum war er eingetreten, hörte es schlagartig auf, und er fragte sich, was ihn mehr ärgerte, das Lachen oder sein unvermitteltes Abbrechen.
Elliot stand in der Mitte des Raums, eine Hand auf die schmale Hüfte gestützt, die andere leicht erhoben, der gestreckte Zeigefinger in der Luft erstarrt, mit einem begehrlichen und zugleich säuerlichen Ausdruck im Gesicht. Er äffte außerordentlich treffend einen der Gäste nach.
»Was ist hier los?«
Pierre konnte den strengen, missbilligenden Ton in seiner Stimme selbst nicht leiden. Und er konnte den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht leiden. Furcht. Außer auf dem von Elliot. Der wirkte zufrieden.
Das Personal hatte sich noch nie vor ihm gefürchtet, und es gab auch keinen Grund, warum sie es jetzt tun sollten. Es lag nur an diesem Elliot. Vom ersten Tag an hatte er die anderen gegen den Maître d’ aufgewiegelt. Er spürte es. Dass auf einmal nicht mehr alle Fäden bei ihm zusammenliefen und er sich wie ein Außenseiter im Manoir vorkam.
Wie hatte der junge Mann das nur geschafft?
Im Grunde wusste Pierre es genau. Elliot hatte die schlimmsten Seiten an ihm zum Vorschein gebracht, hatte ihn verhöhnt, sämtliche Regeln übertreten und Pierre dazu gezwungen, den Zuchtmeister zu spielen, der er gar nicht war. Die anderen jungen Leute waren alle lernwillig, sie waren bereit, zuzuhören und sich etwas beibringen zu lassen, sie waren dankbar für den geregelten Tagesablauf und die Führung durch den Maître d’. Er brachte ihnen bei, die Gäste zu respektieren, höflich und freundlich zu sein, selbst wenn man sie schikanierte. Er erklärte ihnen, dass die Gäste gutes Geld dafür bezahlten, verwöhnt zu werden, aber es ging noch um mehr. Sie kamen ins Manoir, damit sich jemand um sie kümmerte.
Pierre fühlte sich manchmal wie ein Arzt in der Notaufnahme. Die Leute strömten durch die Tür, Opfer des Stadtlebens, niedergedrückt von der Bürde des Alltags. Zu viele Forderungen, zu wenig Zeit, zu viele Rechnungen, E-Mails, Meetings, Telefonate, zu wenig Dankbarkeit und viel zu viel, wirklich viel zu viel Druck – das alles hatte sie gebrochen. Er erinnerte sich, wie erschöpft sein Vater immer aus dem Büro nach Hause gekommen war, völlig geschafft.
Sie verrichteten im Manoir Bellechasse keine niedrigen Arbeiten, das wusste Pierre. Diese Arbeit war ehrenvoll und wichtig. Sie sorgten dafür, dass Leute geheilt wurden. Wobei manche natürlich schwerer verletzt waren als andere.
Nicht jeder eignete sich für diese Art Arbeit.
Elliot zum Beispiel.
»Ich habe nur Spaß gemacht.«
Das sagte Elliot, als wäre es das Normalste von der Welt, mitten in der engen, vollbesetzten Küche zu stehen und die Gäste nachzuäffen, und der Maître d’ wäre derjenige, der nicht ganz normal war. Pierre spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Er sah sich um.
Die große, alte Küche bot sich als Treffpunkt für das Personal an. Selbst die Gärtner waren da, aßen Kuchen und tranken Tee und Kaffee. Und sahen zu, wie er sich von einem Neunzehnjährigen demütigen ließ. Pierre sagte sich, dass Elliot noch jung sei. Aber das hatte er sich schon so oft gesagt, dass es seine Bedeutung verloren hatte.
Er wusste, dass er es aufgeben sollte.
»Du hast unsere Gäste lächerlich gemacht.«
»Nur einen. Außerdem macht sich die Frau doch selbst total lächerlich. Entschuldigen Sie, aber ich glaube, er hat mehr Kaffee als ich bekommen. Entschuldigen Sie, aber ist das wirklich der beste Platz? Ich habe ausdrücklich um den besten Platz gebeten. Entschuldigen Sie, ich will mich gewiss nicht beschweren, aber ich habe vor Ihnen bestellt. Wo bleiben meine Selleriestangen?«
Einen Moment lang ging ein Kichern durch die gemütliche Küche.
Er hatte sie sehr gut nachgeahmt. Trotz seiner Wut erkannte der Maître d’ Sandra Morrows glattzüngig vorgebrachte Klagen sofort wieder. Nie war sie zufrieden. Elliot mochte kein guter Kellner sein, aber er besaß eine geradezu unheimliche Fähigkeit, die Fehler anderer aufzudecken. Und sie zu vergrößern. Und sich über sie lustig zu machen. Diese Begabung fand allerdings nicht jeder attraktiv.
»Sehen Sie mal, wen ich draußen gefunden habe!«, rief Julia, als sie in den Salon traten.
Reine-Marie lächelte und stand auf, um ihrem Mann einen Kuss zu geben und ihm einen bauchigen Cognacschwenker zu reichen. Die anderen sahen auf, lächelten und wandten sich wieder ihrer jeweiligen Beschäftigung zu. Julia stand unsicher in der Tür, dann nahm sie sich eine Zeitschrift und ließ sich in einem Ohrensessel nieder.
»Geht’s dir besser?«, flüsterte Reine-Marie.
»Viel besser«, sagte Gamache wahrheitsgemäß, nahm das von ihren Händen erwärmte Glas und folgte ihr zum Sofa.
»Wie wäre es nachher mit einer Runde Bridge?« Thomas unterbrach sein Klavierspiel und gesellte sich zu den Gamaches.
»Wunderbar, gute Idee«, sagte Reine-Marie. Sie hatten auch die letzten Abende mit Thomas und Sandra Bridge gespielt. Es war eine angenehme Art, den Tag ausklingen zu lassen.
»Na, Rosen gefunden?«, fragte Thomas Julia, als er zurück zu seiner Frau ging. Sandra ließ ein Lachen wie eine Maschinengewehrsalve los, so als hätte er etwas unglaublich Kluges und Witziges von sich gegeben.
»Du meinst wohl ein paar Eleanor-Rosen?«, fragte Mariana höchst belustigt vom Fenster her, wo sie mit Bean saß. »Die magst du doch am liebsten, oder, Julia?«
»Ich finde eigentlich, dass sie zu dir besser passen würden.« Julia lächelte.
Mariana erwiderte das Lächeln und stellte sich dabei vor, wie einer der Holzbalken sich löste und ihre ältere Schwester unter sich begrub. Es war doch längst nicht so lustig, dass sie wieder dabei war, wie Mariana gehofft hatte. Ganz im Gegenteil sogar. »Zeit, ins Bett zu gehen, mein Beanchen«, sagte Mariana und legte ihren fleischigen Arm um das lesende Kind. Bean war das ruhigste zehnjährige Kind, das Gamache kannte, schien dabei aber ganz zufrieden zu sein. Als das Kind an ihm vorbeiging, sah er ihm in die strahlend blauen Augen.
»Was liest du denn da?«, fragte Gamache.
Bean blieb stehen und blickte den großen fremden Mann an. Sie waren zwar schon drei Tage zusammen im Manoir, hatten aber noch kein Wort miteinander gewechselt.
»Nichts.« Gamache bemerkte, wie die kleinen Hände sich fester um das Buch schlossen und es gegen die Brust pressten, sodass das weite T-Shirt sich nach oben schob. Durch die dünnen, gebräunten Finger konnte Gamache ein Wort des Titels entziffern.
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