»Was kann ich für Sie tun?«
Gamache hob etwas verschämt sein Glas. »Es tut mir leid, Sie mit solchen Kleinigkeiten zu belästigen, aber ich brauche noch ein bisschen Zucker.«
»Oje. Das habe ich befürchtet. Er scheint ausgegangen zu sein. Ich habe schon einen der garçons geschickt, um welchen zu besorgen. Désolé. Aber wenn Sie so gut sein und hier warten wollen, ich glaube, ich weiß, wo die Köchin ihren Notvorrat versteckt. So etwas ist wirklich noch nie vorgekommen.«
Genauso wenig, dachte Gamache, war er jemals Zeuge geworden, wie der unerschütterliche Maître d’ durch irgendetwas aus der Ruhe gebracht wurde.
»Ich möchte Sie keinesfalls in Bedrängnis bringen«, rief Gamache Patenaude hinterher, aber dieser war bereits durch die Tür verschwunden.
Kurz darauf kehrte der Maître d’ mit einer kleinen Porzellandose in der Hand zurück.
»Glück gehabt. Ich musste allerdings erst unsere Köchin niederringen.«
»Ach, das waren die Schreie, die ich eben gehört habe. Vielen Dank!«
»Pour vous, monsieur, c’est un plaisir.« Patenaude nahm sein Tuch wieder zur Hand und fuhr fort, eine Silberschüssel zu polieren, während Gamache den wertvollen Zucker in seine Limonade löffelte. Beide Männer sahen im einvernehmlichen Schweigen zu den Fenstern in den Garten und auf den stillen See hinaus. Ein Kanu trieb langsam vorbei.
»Ich habe gerade vorhin meine Instrumente überprüft«, sagte der Maître d’. »Es zieht ein Sturm auf.«
»Wirklich?«
Der Himmel war klar, und es regte sich kein Lüftchen, aber so wie alle Gäste in dem wunderbaren alten Jagdhaus glaubte Gamache fest an die Wettervorhersagen des Maître d’, die dieser mithilfe seiner auf dem ganzen Anwesen verteilten, selbstgebauten Instrumente erstellte. Es sei ein Hobby, hatte der Maître d’ einmal erklärt, das von Vater zu Sohn weitergegeben wurde.
»Manche Väter bringen ihren Söhnen bei, wie man jagt und fischt. Meiner nahm mich mit in den Wald und führte mich in die Wetterkunde ein«, hatte er gesagt, als er Gamache und Reine-Marie das Barometer und das alte Glasgefäß gezeigt hatte, das bis zur Tülle mit Wasser gefüllt war. »Jetzt bringe ich es ihnen bei.« Pierre Patenaude hatte in Richtung der jungen Leute gedeutet, die hier arbeiteten. Gamache hoffte, dass sie gut aufpassten.
Im Bellechasse gab es kein Fernsehen, und selbst Radio konnte man nur ausnahmsweise empfangen, und das bedeutete, dass auch die Wetterberichte der großen Wetterstationen nicht zu ihnen gelangten. Damit blieben nur Patenaude und seine sagenumwobene Fähigkeit zur Wettervorhersage. Jeden Tag, wenn sie zum Frühstück herunterkamen, war der neue Wetterbericht an die Tür des Speisesaals geheftet. Das linderte die schlimmsten Entzugserscheinungen, da sie nun einmal einer Nation angehörten, die nach Wetternachrichten süchtig war.
Jetzt sah Patenaude hinaus in den friedvollen Garten. Es rührte sich kein Blättchen.
»Ja. Zuerst kommt die Hitze, dann das Gewitter. Sieht mir ganz nach einem heftigen Unwetter aus.«
»Danke.« Gamache hob sein Limonadenglas und ging wieder hinaus.
Er liebte Sommergewitter, besonders im Bellechasse. Hier konnte man sie kommen sehen, anders als in Montréal, wo sie unvermittelt über einem loszubrechen schienen. Zuerst färbten die dunklen Wolken den Himmel am gegenüberliegenden Seeufer schwarz, um sich nach einer Weile in schweren Regenfällen zu ergießen. Das Gewitter schien sich zu sammeln, tief Luft zu holen, und dann marschierte es in einer breiten Phalanx los über den See. Mittlerweile nahm der Wind an Stärke zu, fing sich in den großen Bäumen und schüttelte sie wild hin und her. Dann schlug das Gewitter zu. Bumm! Und während der Sturm heulte und blies und sich gegen das Haus warf, würde er sich zusammen mit Reine-Marie hinter den dicken Wänden des Manoir in Sicherheit befinden.
Als er hinaustrat, prallte er gegen die Hitze wie gegen eine Mauer.
»Zucker gefunden?«, fragte Reine-Marie, streckte die Hand aus und berührte seine Wange, als er sich vorbeugte, um ihr einen Kuss zu geben, bevor er sich setzte.
»Ja.«
Sie nahm ihre Lektüre wieder auf, und Gamache griff nach dem Devoir, aber seine große Hand blieb über den Schlagzeilen in der Luft hängen. Neues Unabhängigkeitsreferendum? Bandenkrieg unter Bikern. Viele Tote bei einem Erdbeben.
Seine Hand wanderte weiter zu dem Limonadenglas. Das ganze Jahr über lief ihm bei dem Gedanken an die hausgemachte Limonade im Manoir Bellechasse das Wasser im Mund zusammen. Sie schmeckte frisch und sauber, süß und sauer. Sie roch nach Sonne und Sommer.
Gamache spürte, wie seine Schultern nachgaben. Die angespannte Wachsamkeit ließ nach. Wie angenehm. Er nahm seinen weichen Sonnenhut ab und wischte sich über die Stirn. Es wurde immer schwüler.
Während er so friedlich dasaß, konnte Gamache sich plötzlich nicht mehr vorstellen, dass sich ein Sturm zusammenbrauen sollte. Aber er merkte, wie der Schweiß in schmalen Bahnen an seinem Rückgrat entlanglief. Er meinte den wachsenden Luftdruck zu spüren, und die Worte, die der Maître d’ ihm hinterhergerufen hatte, kamen ihm wieder in den Sinn.
»Morgen wird es mörderisch.«
2
Nachdem sich die Gamaches mit einer Runde im See und einem Gin Tonic auf dem Steg erfrischt hatten, duschten sie und gesellten sich zu den anderen Gästen im Speisesaal. Kerzen brannten in Sturmlampen, und jeder Tisch war mit einem kleinen Blumengesteck aus alten englischen Rosen geschmückt. Auf dem Kaminsims stand ein üppigeres Gesteck, fast eine Skulptur aus Pfingstrosen und Flieder, zartblauem Rittersporn und hinfällig entrücktem Tränendem Herz.
Die Finneys saßen zusammen an einem Tisch, die Männer in Dinnerjacketts, die Frauen in luftigen Sommerkleidern, da es selbst zu dieser Stunde noch warm war. Bean trug weiße Shorts und ein froschgrünes T-Shirt.
Die Gäste sahen zu, wie die Sonne hinter den sanften Hügeln am Lake Massawippi unterging, und genossen dabei die verschiedenen Gänge, angefangen bei dem amuse-bouche aus einheimischem Karibu. Reine-Marie hatte die escargots à l’ail gewählt, gefolgt von gebratener Entenbrust mit einem confit von wildem Ingwer, Mandarine und Kumquat. Gamache aß einen bunten Gartensalat mit gehobeltem Parmesan, danach Wildlachs mit Sauerampferjoghurt.
»Und zum Dessert?« Pierre zog eine Flasche aus dem Weinkühler und schenkte ihnen nach.
»Was können Sie denn empfehlen?« Reine-Marie traute ihren Ohren nicht. Hatte sie das wirklich gefragt?
»Für Madame hätten wir frisches Minzeeis auf einem mit dunkler Bioschokoladencreme gefüllten Eclair, und für Monsieur einen Pudding du chômeur à l’érable avec crème chantilly.«
»Oje«, flüsterte Reine-Marie und wandte sich an ihren Mann. »Wie heißt dieser berühmte Satz von Oscar Wilde noch mal?«
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