Название: Radetzkymarsch
Автор: Йозеф Рот
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788726539332
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Aus der Tür des Hotels trat in diesem Augenblick der Portier. Er grüßte den Bezirkshauptmann und den Leutnant mit einem heftigen Schwung der goldbetreßten Mütze und zeigte ein unwilliges Gesicht. Es sah aus, als könnte er im nächsten Augenblick dem Maler Moser Lärm und Aufenthalt und Beleidigung der Gäste vor dem Hotel verbieten wollen. Der alte Trotta griff in die Brusttasche, der Maler verstummte. «Kannst du mir aushelfen?» fragte der Vater. Der Leutnant sagte: «Ich werde den Herrn Professor ein wenig begleiten. Auf Wiedersehn, Papa!» Der Bezirkshauptmann lüftete den Halbzylinder und ging in’s Hotel. Der Leutnant gab dem Professor einen Schein und folgte dem Vater. Der Maler Moser hob die Mappe auf und entfernte sich mit gemessen wankender Würde.
Schon lag der tiefe Abend in den Straßen, und auch in der Halle des Hotels War es dunkel. Der Bezirkshauptmann saß, den Zimmerschlüssel in der Hand, den Halbzylinder und den Stock neben sich, ein Bestandteil der Dämmerung, im ledernen Sessel. Der Sohn blieb in achtungsvoller Entfernung von ihm stehen, als wollte er die Erledigung der Affäre Moser dienstlich melden. Noch waren die Lampen nicht entzündet. Aus dem dämmernden Schweigen kam die Stimme des Alten: «Wir fahren morgen nachmittag zwei Uhr fünfzehn.»
«Jawohl, Papa.»
«Es ist mir bei der Musik eingefallen, daß du den Kapellmeister Nechwal besuchen müßtest. Nach dem Besuch beim Wachtmeister Slama, versteht sich. Hast du noch was in Wien zu erledigen?»
«Die Hosen abholen lassen und die Zigarettendose.»
«Was sonst?»
«Nichts, Papa!»
«Du machst morgen vormittag noch deine Aufwartung bei deinem Onkel. Hast du offenbar vergessen. Wie oft bist du sein Gast gewesen?»
«Jedes Jahr zweimal, Papa!»
«Na also! Richtest einen Gruß von mir aus. Sagst, ich laß’ mich entschuldigen. Wie sieht er übrigens aus, der gute Stransky?»
«Sehr gut, wie ich ihn zuletzt gesehen habe.»
Der Bezirkshauptmann griff nach seinem Stock und stützte die vorgestreckte Hand auf die silberne Krücke, wie er es gewohnt war, im Stehen zu tun, und als müßte man auch sitzend noch einen besonderen Halt haben, sobald von jenem Stransky die Rede war:
«Ich hab ihn zuletzt vor neunzehn Jahren gesehn. Da war er noch Oberleutnant. Schon verliebt in diese Koppelmann. Unheilbar! Die Geschichte war recht fatal. Verliebt war er halt in eine Koppelmann.» Er sprach diesen Namen lauter als das Übrige und mit einer deutlichen Zäsur zwischen den beiden Teilen. «Sie konnten die Kaution natürlich nicht aufbringen. Deine Mutter hätt’ mich beinah dazu gebracht, die Hälfte herzugeben.»
«Er hat den Dienst quittiert?»
«Ja, das hat er. Und ist zur Nordbahn gekommen. Wie weit ist er heute? Bahnrat, glaub ich, wie?»
«Jawohl, Papa!»
«Na also. Hat er nicht den Sohn Apotheker werden lassen?»
«Nein, Papa, der Alexander ist noch im Gymnasium.»
«So. Hinkt ein bißchen, hab ich gehört, wie?»
«Er hat ein kürzeres Bein.»
«Na ja!» schloß der Alte befriedigt, als hätte er schon vor neunzehn Jahren vorausgesehn, daß Alexander hinken würde.
Er erhob sich, die Lampen im Vestibül flammten auf und beleuchteten seine Blässe. «Ich will Geld holen!» sagte er. Er näherte sich der Treppe. «Ich hol’s, Papa!» sagte Carl Joseph. «Danke!» sagte der Bezirkshauptmann.
«Ich empfehle dir», sagte er dann, während sie die Mehlspeise aßen, «die Bacchussäle. Soll so eine neue Sache sein! Triffst dort vielleicht den Smekal.»
«Danke, Papa! Gute Nacht!»
Zwischen elf und zwölf Vormittags besuchte Carl Joseph den Onkel Stransky. Der Bahnrat war noch im Büro, seine Frau, geborene Koppelmann, ließ den Bezirkshauptmann herzlich grüßen. Carl Joseph ging langsam über den Ringkorso ins Hotel. Er bog in die Tuchlauben ein, ließ die Hosen ins Hotel schicken, holte die Zigarettendose ab. Die Zigarettendose war kühl, man fühlte ihre Kühle durch die Tasche der dünnen Bluse an der Haut. Er dachte an den Kondolenzbesuch beim Wachtmeister Slama und faßte den Beschluß, keinesfalls das Zimmer zu betreten. «Herzlichstes Beileid, Herr Slama!» wird er sagen, auf der Veranda noch. Die Lerchen trillern unsichtbar im blauen Gewölbe. Man hört das schleifende Wispern der Grillen. Man riecht das Heu, den späten Duft der Akazien, die aufblühenden Knospen im Gärtchen des Gendarmeriekommandos. Frau Slama ist tot. Kathi, Katharina Luise nach dem Taufschein. Sie ist tot.
Sie fuhren nach Hause. Der Bezirkshauptmann legte die Akten weg, bettete den Kopf zwischen die roten Samtpolster in der Fensterecke und schloß die Augen.
Carl Joseph sah zum erstenmal den Kopf des Bezirkshauptmanns waagerecht gelegt, die Flügel der schmalen, knöchernen Nase gebläht, die zierliche Mulde im glattrasierten gepuderten Kinn und den Backenbart ruhig gespreizt in zwei breiten schwarzen Fittichen. Schon silberte er ein wenig an den äußersten Ecken, schon hatte ihn dort das Alter gestreift und an den Schläfen auch. «Er wird eines Tages sterben!» dachte Carl Joseph. «Sterben wird er und begraben werden. Ich werde bleiben.» Sie waren allein im Coupé. Das schlummernde Angesicht des Vaters wiegte sich friedlich im rötlichen Dämmer der Polsterung. Unter dem schwarzen Schnurrbart waren die blassen, schmalen Lippen wie ein einziger Strich, an dem dünnen Hals zwischen den blanken Ecken des Stehkragens wölbte sich der kahle Adamsapfel, die tausendfach gerunzelten bläulichen Häute der geschlossenen Lider zitterten ständig und leise, die breite weinrote Krawatte hob und senkte sich gleichmäßig, und auch die Hände schliefen, geborgen in den Achselhöhlen an den quer über der Brust gekreuzten Armen. Eine große Stille ging vom ruhenden Vater aus. Entschlafen und besänftigt schlummerte auch seine Strenge, eingebettet in der stillen, senkrechten Furche zwischen Nase und Stirn, wie ein Sturm schläft im schroffen Spalt zwischen den Bergen. Diese Furche war Carl Joseph bekannt, sogar wohlvertraut. Das Angesicht des Großvaters auf dem Porträt im Herrenzimmer zierte sie, dieselbe Furche, der zornige Schmuck der Trottas, das Erbteil des Helden von Solferino. Der Vater öffnete die Augen: «Wie lange noch?» — «Zwei Stunden, Papa!» Es begann zu regnen. Es war Mittwoch, Donnerstag nachmittag war der Kondolenzbesuch bei Slama fällig. Es regnete auch Donnerstag vormittag. Eine Viertelstunde nach dem Essen, sie hielten noch beim Kaffee im Herrenzimmer, sagte Carl Joseph: «Ich gehe zu den Slamas, Papa!» — «Er ist leider allein!» erwiderte der Bezirkshauptmann. «Du triffst ihn am besten um vier.» Man hörte in diesem Augenblick vom Kirchturm zwei helle Schläge, der Bezirkshauptmann hob den Zeigefinger und deutete in die Richtung der Glocken zum Fenster. Carl Joseph wurde rot. Es schien, daß der Vater, der Regen, die Uhren, die Menschen, die Zeit und die Natur selbst entschlossen waren, ihm den Weg noch schwerer zu machen. Auch an jenen Nachmittagen, an denen er noch zur lebenden Frau Slama gehen durfte, hatte er auf den goldenen Schlag der Glocken gelauscht, ungeduldig, wie heute, aber darauf bedacht, den Wachtmeister eben nicht zu treffen. Hinter vielen Jahrzehnten schienen jene Nachmittage vergraben zu liegen. Der Tod beschattete und barg sie, der Tod stand zwischen damals und heute und schob seine ganze zeitlose Finsternis zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und dennoch war der goldene Schlag der Stunden nicht verwandelt — und genau so wie damals, saß man heute im Herrenzimmer und trank Kaffee.
«Es regnet», sagte der Vater, als bemerkte er es jetzt zum erstenmal. СКАЧАТЬ