Название: Maigret und der Mann auf der Bank
Автор: Georges Simenon
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Georges Simenon
isbn: 9783311701934
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»Meine Schwester wohnt zwei Straßen von hier. Der Chauffeur muss nur rechts abbiegen; dann gleich die zweite Straße links.«
Die beiden Häuschen glichen einander wie Zwillinge. Nur die Farbe der kleinen Fenster an der Eingangstür war verschieden. Diese hier waren aprikosengelb.
»Ich bin gleich wieder da.«
Sie blieb doch fast eine Viertelstunde fort und kam in Begleitung einer Frau zurück, die haargenau so aussah wie sie und ebenfalls schwarz gekleidet war.
»Meine Schwester kommt mit. Ich dachte, wir könnten ein bisschen zusammenrücken. Mein Schwager wird bei mir zu Hause auf meine Tochter warten. Er ist Zugschaffner und hat heute frei.«
Maigret setzte sich neben den Schaffner. Die beiden Frauen hinten ließen nur sehr wenig Platz für Inspektor Santoni. Von Zeit zu Zeit hörte man sie flüstern wie im Beichtstuhl.
Als sie das Gerichtsmedizinische Institut unweit vom Pont d’Austerlitz erreichten, lag Louis Thourets Leichnam noch bekleidet auf einer Steinplatte, wie Maigret es angeordnet hatte. Während der Kommissar das Gesicht abdeckte, beobachtete er die beiden Frauen, die er jetzt zum ersten Mal im vollen Licht sah. Eben noch, im Dunkel der Straße, hatte er sie für Zwillinge gehalten. Nun erkannte er, dass die Schwester drei oder vier Jahre jünger sein musste. Ihr Körper hatte sich eine gewisse Geschmeidigkeit bewahrt, vermutlich nicht mehr für lange.
»Erkennen Sie ihn wieder?«
Madame Thouret hielt ihr Taschentuch in der Hand, weinte aber nicht. Ihre Schwester hatte sie untergefasst, wie um sie zu stützen.
»Ja, er ist es, mein armer Louis. Als er mich heute Morgen verließ, hat er nicht geahnt …«
Und unvermittelt fügte sie hinzu:
»Werden ihm denn nicht die Augen geschlossen?«
»Das können Sie jetzt tun.«
Sie sah ihre Schwester an, und sie schienen einander zu fragen, wer von ihnen beiden es auf sich nehmen sollte. Schließlich tat es die Ehefrau, nicht ohne Feierlichkeit, wobei sie murmelte:
»Armer Louis.«
Kurz darauf bemerkte sie die Schuhe, die unter dem Tuch, mit dem der Leichnam zugedeckt war, hervorragten, und ihr Gesicht verfinsterte sich:
»Was ist das denn?«
Maigret begriff nicht gleich.
»Wer hat ihm die Schuhe da angezogen?«
»Er trug sie, als er gefunden wurde.«
»Das ist nicht möglich. Louis trug keine gelben Schuhe. Jedenfalls nicht in den sechsundzwanzig Jahren unserer Ehe. Er wusste, dass ich das nie geduldet hätte. Sieh doch bloß, Jeanne.«
Jeanne nickte nur.
»Vielleicht sollten Sie überhaupt prüfen, ob die Kleidungsstücke, die er trägt, seine sind. Es ist doch Ihr Mann?«
»Ohne Zweifel. Aber das sind nicht seine Schuhe. Schließlich putze ich seine Schuhe jeden Tag, ich werde sie wohl kennen. Heute Morgen hatte er seine schwarzen an, die mit der doppelten Sohle, die er zur Arbeit trägt.«
Maigret zog das Tuch ganz zurück.
»Ist das sein Mantel?«
»Ja.«
»Sein Anzug?«
»Ja, auch sein Anzug. Aber nicht seine Krawatte. Eine so grelle hätte er nie getragen. Die da ist ja knallrot.«
»Führte Ihr Mann ein geregeltes Leben?«
»Ein geregelteres kann man sich gar nicht vorstellen; meine Schwester wird es Ihnen bestätigen. Morgens stieg er an der Straßenecke in den Bus zum Bahnhof, wo er den Zug um acht Uhr siebzehn nahm. Er fuhr immer zusammen mit Monsieur Beauduin, unserem Nachbarn. Der ist beim Finanzamt. An der Gare de Lyon nahm er die Metro und fuhr bis zur Station Boulevard Saint-Martin.«
Der Beamte des Gerichtsmedizinischen Instituts machte Maigret ein Zeichen. Dieser führte daraufhin die beiden Frauen zu einem Tisch, auf dem der Inhalt der Taschen des Toten ausgebreitet war.
»Sie erkennen diese Dinge wieder?«
Da lagen eine silberne Taschenuhr mit Kette, ein Taschentuch ohne Monogramm, ein angebrochenes Päckchen Gauloises, ein Feuerzeug, ein Schlüssel und neben der Brieftasche zwei kleine blaue Karten.
Sofort richtete Madame Thouret ihren Blick auf diese Karten.
»Kinokarten«, sagte sie.
Nachdem Maigret die Karten eingehend betrachtet hatte, sagte er:
»Sie stammen von einem Kino am Boulevard Bonne-Nouvelle. Wenn ich richtig sehe, gelten sie für heute.«
»Das kann nicht sein. Was sagst du dazu, Jeanne?«
»Mir kommt es seltsam vor«, erwiderte die Schwester ruhig.
»Würden Sie einen Blick in seine Brieftasche werfen?«
Sie tat es, und erneut verdüsterte sich ihr Gesicht.
»So viel Geld hatte Louis heute Morgen nicht bei sich.«
»Wissen Sie das genau?«
»Ich prüfe jeden Tag, ob er Geld in seiner Brieftasche hat. Es ist nie mehr als ein Tausendfrancschein und zwei oder drei Hunderter darin.«
»Er durfte nichts davon nehmen?«
»Wir sind doch nicht am Monatsende!«
»Er hatte also, wenn er abends zurückkam, denselben Betrag in der Brieftasche wie am Morgen?«
»Abzüglich der Kosten für Metro und Zigaretten. Für die Bahn hat er ein Abonnement.«
Sie zögerte, die Brieftasche einzustecken.
»Sie brauchen sie wohl noch?«, fragte sie.
»Bis auf Weiteres, ja.«
»Am wenigsten verstehe ich, dass man ihm andere Schuhe angezogen und eine andere Krawatte umgebunden hat. Und dass er sich zu der Zeit, als das passierte, nicht im Geschäft befand.«
Maigret ging nicht darauf ein, sondern legte ihr die Formulare zur Unterschrift vor.
»Fahren Sie jetzt wieder nach Hause?«
»Wann wird die Leiche freigegeben?«
»Wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen.«
»Wird eine Autopsie gemacht?«
»Wenn der Untersuchungsrichter sie anordnet. Das ist noch nicht sicher.«
Sie sah auf СКАЧАТЬ