Ein reines Wesen. Isabella Archan
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Название: Ein reines Wesen

Автор: Isabella Archan

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Willa Stark

isbn: 9783956022326

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      Latexhandschuhe an deiner Kehle, deinen seitlichen Halssträngen.

      Finger unter synthetisch dehnbarem Stoff, die zu pressen beginnen. Daumen, die auf deinen Kehlkopf drücken.

      Du möchtest lachen, denn in deinem Leben hast du viele schlimme Momente mit Humor überspielt.

      Komm, öffne die Lippen, lächle deinem Gegenüber zu, das sich wie in einem Film verwandelt zu haben scheint. Zeig ihm, dass du verstanden hast, ihm nichts übel nimmst und keiner Menschenseele von dieser irren Aktion erzählen wirst. Versprochen!

      Ich habe verstanden, dass es Ihnen nicht gut geht. Gerne können wir darüber reden, wenn Sie möchten.

      Das wirst du anschließend sagen. Wenn sich die Wogen geglättet haben.

      Und: Außerdem sind es nur Gerüchte. Dummes Geschwätz. Aber jetzt bitte aufhören.

      Diese Sätze und diese Bitte könntest du auch auf der Stelle äußern, wenn deine Stimmbänder ihren Dienst tun würden. Doch statt Worten rutschen Gurgellaute über deine Lippen. Die Comics fallen dir ein, die du als Kind so gerne gelesen hast.

      Dein Mund tut dir immerhin den Gefallen und öffnet sich weit. Aber bevor etwas anderes entweichen kann, streckt sich die Zunge vor.

      Der Schmerz setzt ein.

      Verspätet, aber mächtig.

      Kein Brennen, kein Stechen oder krampfartiges Zusammenziehen. Es ist keine Art von Schmerz, die du benennen kannst. Es tut weh.

      Wie weh?

      Einmal bist du über eine glühende Kohlenfläche gelaufen, spät abends an einem Lagerfeuer. Aus Spaß. Weil du etwas betrunken warst, bist du mitten in der Glut stehengeblieben. Hast die Arme nach oben gereckt und »Tschakka!« gerufen. Bis der Schmerz kam.

      So weh wie damals tut es.

      Jetzt, wo dir endlich ein winziger möglicher Vergleich eingefallen ist, scheint es leichter zu werden. Es ist nicht mehr weit bis zum Ende. Nicht deinem Ende, nein, sondern dem Moment, in dem sich die Klammerfinger wieder lösen und eine Entschuldigung fällig wird.

      Eine mächtige Entschuldigung.

      Das Sichtfeld verändert sich. Vor deinen Augen verschwimmt das unfassbar bekannte Gesicht und wird ersetzt durch einen Sternenregen. Farben mischen sich zwischen dem Aufblitzen und Explodieren der Himmelskörper. Ein Gelb, ein Orange, ein grelles Blau. So ein Feuerwerk hast du noch nie gesehen.

      Deine Lungen melden sich. Sie gieren nach Sauerstoff. Du versuchst zu atmen, zu schnappen, einzusaugen. Nichts. Als wärst du unter Wasser. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt und du bist zu einem Fisch geworden. Aus dem Wasser gespült, ohne die Fähigkeit, an Land zu atmen.

      Dein ganzes System steht vor dem Kollaps.

      Drei: Deine Hände gehen nach oben. Um den Eisengriff zu lösen. Dein linkes Bein schlägt nach vorne aus, während dein rechtes einknickt. Du gehst in die Knie, zur gleichen Zeit trittst du. Ein verrückter Tanz. Deine Muskeln ziehen sich zusammen, zucken, ziehen, zappeln. Schmerz kannst du es nicht mehr nennen, denn es ist größer.

      Du schrumpfst und dein Gegenüber wächst hoch in den Himmel, zwischen all den explodierten Sterne, die nun verblassen. Über dich gebeugt steht kein Mensch mehr, sondern ein eigenartig verschwommenes Wesen, das über deine weitere Existenz entscheidet.

      Sollte nicht dein Leben vor dir ablaufen, die Bilder, die Erinnerungen? Sollten nicht die lieben Verstorbenen auftauchen und dich auf die andere Seite geleiten? Wo ist das Licht, das verdammte Licht?

      Ein Schnappen erklingt. Es hört sich wie das Einrasten eines Verschlusses an.

      Eine kleine Erinnerung lugt endlich doch noch um die Ecke.

      Du, als Kind, vor einem Wunschbrunnen auf einem Rummelplatz. ›Dreimal wünschen‹, stand auf einem Schild davor. ›Und einmal spucken‹, hatte jemand mit schwarzem Filzstift darunter gekritzelt. Sehr lustig, damals wie heute.

      Du gehst, du fliegst, du löst dich auf.

      Am Ende ist kein Licht im dunklen Tunnel. Aber ein Funken Humor. Ein letztes Augenzwinkern, das du mit Freude umarmst.

      Der Chaostheorie zufolge konnte der Flügelschlag eines Schmetterlings eine Naturkatastrophe wie einen Tsunami auslösen.

      Galt diese Annahme auch für einen Mord? Hatte ein leichtes Flattern zum Tod der Frau geführt, zu ihrem Ableben? Oder waren es ihre schmutzigen Gedanken, ihr böses Gerede und ihre eigenen gierigen Wünsche, die sie in diesen Zustand versetzt hatten?

      Konnte denn der Schmetterling in seiner Pracht und Unschuld überhaupt etwas dafür, dass seine Flügel im Moment der Bewegung Unheil gebracht hatten? Ein reines und unschuldiges Wesen war er, wundervoll in seiner Transformation. Ein derartiges Geschöpf vermochte kein Unheil zu bringen.

      Trotzdem lag auf dem Boden des Krankenzimmers der Unfallstation eine tote Frau.

      Mit Würgemalen am Hals.

      Es würde nicht lange dauern, bis Karin, die so freundliche und kompetente Nachtschwester, entdeckt werden würde.

      Ihre Augen waren im Tod weit geöffnet, man hätte meinen können, sie hätte ein Wunder bestaunt. Vielleicht war der Schmetterling ein solches, und Karin hatte im letzten Brechen der Pupillen sein wahres Inneres erkannt. Wäre nicht die Zunge gewesen, die dick und unansehnlich über die Lippen der Toten quoll, wäre sie durchaus ein schöner Anblick gewesen.

      Der Schmetterling beherrschte sich, sich über den Körper zu beugen und die Zunge in die Mundhöhle zurückzupressen. Trotz der Latexhandschuhe sollte es keine weitere Berührung geben. Mit einem seiner Insektenbeine, an dem noch ein Schuh hing, stupste er Karin an, schob sie ein kleines Stück am Boden entlang. Näher ans Krankenbett.

      Als der Kopf der toten Frau das Rad am unteren Bettpfosten berührte, stoppte der Schmetterling.

      Es war dumm zu glauben, dass irgendjemand denken könnte, einer der beiden Patienten in diesem Zimmer hätte Schwester Karin getötet. Herr Fischer, Klaus Fischer aus Hürth, war mit seinem eingegipsten Bein nicht in der Lage, sich zu bewegen. Herr Wasserburg neben ihm, war heute Nachmittag erst vom Aufwachraum hierher gebracht worden. Beide schliefen tief und fest. Herr Fischer schnarchte leise.

      Der Schmetterling seufzte. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass es keine weiteren Spuren geben würde, außer den DNA-Resten, die alle hier tagtäglich hinterließen. Was, wenn doch? Wenn sich der Schmetterling irrte, käme die nächste Katastrophe in Gang.

      In seinem Rücken begann es zu ziehen, das Gewicht der großen Flügel war zu spüren wie ein schwerer Rucksack. Wäre ein unbeteiligter Zuschauer anwesend, hätte er ein menschengroßes herrliches Geschöpf zu Gesicht bekommen. Perfekt in dieser Verwandlung. Was für einen Stellenwert konnte dagegen eine erwürgte Frau am Boden haben?

      Je länger der Schmetterling auf die Tote vor ihm starrte, desto klarer wurde Nachtschwester Karin zur Schuldigen. In Wahrheit war ihre Freundlichkeit aufgesetzt gewesen, ihre Kompetenz hatte aus überheblichen Bemerkungen bestanden. Eine schlechte Frau, eine Frau ohne Anstand.

      Draußen СКАЧАТЬ