Verschwundene Reiche. Norman Davies
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Verschwundene Reiche - Norman Davies страница 6

Название: Verschwundene Reiche

Автор: Norman Davies

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

Серия:

isbn: 9783806231199

isbn:

СКАЧАТЬ Illusionen geheilt zu werden. An der Jagiellonen-Universität in Krakau fand ich mich in der Obhut erfahrener Historiker wie Henryk Batowski und Jozef Gierowski wieder, die sich vor allem damit beschäftigten, die Übergriffe eines totalitären Regimes abzuwehren, und infolgedessen leidenschaftlich an die Existenz historischer Wahrheit glaubten. Zurück am St Antony’s College in Oxford saß ich solchen Giganten wie William Deakin, Max Hayward und Ronald Hingley zu Füßen, die Geschichte, Politik, Literatur und haarsträubende Kriegsanekdoten miteinander verflochten; mein Doktorvater war der verstorbene Harry Willetts, Fachmann für polnische und russische Philologie und Übersetzer Solschenizins; seine Oberseminare fanden in der Küche seines Hauses am Church Walk statt, wo man aus erster Hand von seiner polnischen Ehefrau Halina erfuhr, was Deportation ins stalinistische Sibirien wirklich bedeutete. Als ich schließlich eine Stelle als Wissenschaftler an der School of Slavonic and Eastern European Studies (SSEES) in London fand, trat ich in den Schatten von Hugh Seton-Watson, eines polyglotten, unglaublich gelehrten Mannes, der auch während des Kalten Krieges nie vergaß, dass Europa aus zwei Hälften besteht. Hugh schrieb eine Rezension meines ersten Buches, anonym, wie es beim Times Literary Supplement damals üblich war, und bekannte sich erst etwa zehn Jahre später dazu. Wir alle an der SSEES hatten Mühe, einem Publikum, das in einer offenen Gesellschaft lebte, die Realitäten abgeschotteter Gesellschaften nahezubringen; wir alle hüteten schwache intellektuelle Flammen, die stets zu verlöschen drohten. Und das an sich war eine wichtige Erfahrung.

      Heute stehen die Barbaren im Vorgarten. Die meisten Schulkinder sind nie mit Homer oder Vergil in Berührung gekommen; manche erhalten überhaupt keinen religiösen Unterricht, egal in welcher Form; und das Lernen moderner Fremdsprachen ist fast zum Erliegen gekommen. Geschichte selbst muss um einen untergeordneten Platz im Curriculum kämpfen, neben offenbar wichtigeren Fächern wie Wirtschaft oder Informatik, Soziologie oder Media Studies. Materialismus und Konsumgesellschaft geben den Ton an. Junge Leute müssen in einer Welt des falschen Optimismus lernen. Anders als ihre Eltern und Großeltern wachsen sie mit sehr wenig Gespür für das gnadenlose Vergehen der Zeit auf.

      Die Aufgabe des Historikers geht daher über die Pflicht hinaus, die allgemeine Erinnerung zu pflegen. Wenn an wenige Ereignisse der Vergangenheit überall und ständig erinnert wird und andere ebenso wichtige Themen dabei unter den Tisch fallen, braucht man entschlossene Kundschafter, die die ausgetretenen Pfade verlassen und einige der weniger schicken Erinnerungsstätten bewahren. Das ähnelt der Arbeit von Ökologen und Naturschützern, die sich um bedrohte Arten kümmern, und jener, die, indem sie das Schicksal des Dodo und des Dinosauriers untersuchen, ein wahres Bild vom Zustand unseres Planeten wie auch von seinen Perspektiven entwerfen.

      Die vorliegende Geschichte einer Auswahl ausgestorbener Reiche habe ich mit eben dieser Neugier erforscht. Der Historiker, der sich auf die Spuren des »Königreichs Strathclyde« oder der »Republik für einen Tag« begibt, ist ebenso aufgeregt wie ein Biologe, der das Versteck des Schneeleoparden oder des Sibirischen Tigers aufspürt. John Keats beschreibt dieses Gefühl so: »Sah Könige, Fürsten, Ritter stehn –/So bleich, wie Tod nur bleich sein kann …«16

      Das Thema der menschlichen Hybris ist natürlich nicht neu. Es ist älter als die Griechen, die das Wort erfanden und auf der Zeit ihrer größten Macht die schon halb im Wüstensand versunkenen Statuen der ägyptischen Pharaonen entdeckten.

      »My name is Ozymandias, King of Kings:

      Look on my works, ye Mighty, and despair!«

      Nothing beside remains. Round the decay

      Of that colossal wreck, boundless and bare

      The lone and level sands stretch far away.

      Mein Name: Ozymandias, König der Könige!

      Schaut auf mein Werk, ihr Mächtigen, und verzweifelt.

      Nichts anderes hat überlebt als das.

      Rings um den Trümmerbruch

      der Riesenstele dehnt sich ohne Maß

      die Ebene voller Sand als weites Tuch.17

      ∗∗∗

      Vom ersten Tag an habe ich mich bei der Planung dieses Buches auf zwei Prioritäten konzentriert: den Unterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit herauszuarbeiten und die Funktionsweise des historischen Gedächtnisses zu erforschen. Deshalb ist jede Fallstudie dreigeteilt. Teil I jedes Kapitels skizziert eine Region in Europa, wie sie heute aussieht. Teil II erzählt die Geschichte eines »vanished kingdom«, das sich einst in jener Gegend befand. Teil III untersucht, wie sehr dieses »vanished kingdom« in Erinnerung geblieben ist oder vergessen wurde; allzu oft erinnert man sich kaum daran und hat es halb vergessen, oder es ist völlig aus dem Gedächtnis verschwunden.

      Zudem habe ich mir alle Mühe gegeben. Verschwundene Reiche aus den vielen wichtigen Epochen und Regionen der europäischen Geschichte auszuwählen, wie der Umfang des Buches es zuließ. Tolosa zum Beispiel lag im Westen Europas, Litauen und Galizien im Osten. Alt Clud und Éire befanden sich auf den Britischen Inseln, Preußen im Baltikum, Tsernagora auf dem Balkan und Aragon auf der Iberischen Halbinsel und im Mittelmeerraum. Die »fünf, sechs, sieben Königreiche« des Burgund-Kapitels umfassten im Mittelalter sowohl das heutige Frankreich wie auch Teile Deutschlands; bei Savoyen geht es vor allem um die Frühe Neuzeit und um die Verbindung von Frankreich, der Schweiz und Italien; Rosenau und die UdSSR gab es nur im 19. bzw. 20. Jahrhundert.

      Natürlich kann man das Thema der Verschwundenen Reiche mit einer begrenzten Anzahl von Beispielen, wie ich sie hier präsentiere, nicht erschöpfend behandeln. Die »Geschichte des halb vergessenen Europa« ist viel komplexer, als jede Auswahl sie darstellen kann. Viele Kandidaten mussten herausfallen, und sei es auch nur als Platzgründen. Eine dieser Studien, »Kernow«, befasst sich mit dem Reich König Marks im nachrömischen Cornwall und schmückt sich mit Gedanken zum Thema des kulturellen Genozids und Auszügen aus dem Werk des kornischen Dichters Norman Davies. Eine andere Untersuchung, »De Grote Appel: Eine kurzlebige holländische Kolonie«, berichtet von New Amsterdam, bevor es zu New York wurde. Eine dritte, »Carnaro: Die Regentschaft des ersten duce«, erzählt die außergewöhnliche Geschichte von Gabriele d’Annunzios Machtübernahme in Fiume im Jahr 1919 und schließt mit seinem wunderbaren Gedicht »La pioggia nel pineto«, »Regen im Pinienhain«.

      Bei all diesen Unternehmungen habe ich natürlich intensiv auf die Werke anderer zurückgegriffen. Kein Historiker kann so gründlich über alle Bereiche und Epochen der europäischen Geschichte Bescheid wissen, und gute Generalisten weiden sich mit Genuss an den Mahlzeiten, die ihre spezialisierten Kollegen ihnen auftischen. Jeder, der unvertrautes Terrain betritt, muss sich mit Karten, Führern und Berichten all jener wappnen, die schon dort waren. In den frühen Phasen meiner Forschungen erhielt ich unglaublich wertvolle Tipps von spezialisierten Kollegen wie dem verstorbenen Rees Davies zum Alten Norden, von David Abulafia zu Aragon oder von Michał Giedroyć zu Litauen, und fast alle Kapitel haben stark von Spezialuntersuchungen und gelehrten Gesprächen profitiert. Kurz gesagt ist jeder einzelne Abschnitt meiner kleinen Kathedrale aus den Ziegeln, Steinen und Entwürfen anderer Historiker entstanden.

      Platons Metapher vom »Staatsschiff« hat mir immer sehr gefallen. Die Vorstellung eines großen Schiffs mit Steuermann, Besatzung und vielen Passagieren, das durch das Meer der Zeit pflügt, spricht mich unwiderstehlich an – ebenso wie die vielen Gedichte, die es feiern: O navis, referent in mare te novi fluctus! O quid agis? Fortiter occupa portum! Nonne vides ut nudum remigio latus…18

      Soll dich wieder, o Schiff, tragen ins Meer die Flut!

      O was hast du im Sinn? Standhaft behaupte den

      Hafen! Siehest du nicht, wie